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Neymeyr, Barbara; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Mitarb.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 1,4): Kommentar zu Nietzsches "Unzeitgemässen Betrachtungen": III. Schopenhauer als Erzieher, IV. Richard Wagner in Bayreuth — Berlin, Boston: de Gruyter, 2020

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https://doi.org/10.11588/diglit.69928#0115
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88 Schopenhauer als Erzieher

siert. Eine ähnliche Darstellungsstrategie findet sich am Anfang von UB III SE
(343, 5-8), wo N. die Funktion einer ganzheitlichen „Erziehung" darin erblickt,
den „Menschen zu einem lebendig bewegten Sonnen- und Planetensysteme
umzubilden und das Gesetz seiner höheren Mechanik zu erkennen." Vgl. auch
NK 349, 29-32.
350, 10 Tragelaphen-Menschheit] Der Begriff ,Tragelaph', der im Altgriechi-
schen ein Fabeltier (Bockhirsch) bezeichnet, wird in übertragenem Sinne für
ein heterogenes literarisches Werk verwendet, das sich mehreren Gattungen
zuordnen lässt. - N. erweitert den Begriff über das Feld der Literatur hinaus
und verwendet ihn, um die Menschen seiner eigenen Epoche als Mischwesen
zu charakterisieren. Diese Zeitdiagnose formuliert N., um Schopenhauer als
positives Gegenbeispiel zu profilieren: als ein „Naturwesen", das gerade in der
dekadenten Moderne durch seine homogene Ganzheit als Vorbild fungieren
kann. Entsprechende Thesen finden sich in Schopenhauers Schrift Ueber die
Universitäts-Philosophie zur „Natur" des Philosophen (PP I, Hü 209).
350, 14-16 ich ahnte, in ihm jenen Erzieher und Philosophen gefunden zu haben,
den ich so lange suchte. Zwar nur als Buch: und das war ein grosser Mangel.]
Diese Einschätzung N.s entspricht tendenziell der Auffassung Schopenhauers,
der in der Schrift Ueber die Universitäts-Philosophie feststellt: „die eigentliche
Bekanntschaft mit den Philosophen läßt sich durchaus nur in ihren eigenen
Werken machen und keineswegs durch Relationen aus zweiter Hand [...]. Zu-
dem hat das Lesen der selbsteigenen Werke wirklicher Philosophen jedenfalls
einen wohlthätigen und fördernden Einfluß auf den Geist, indem es ihn in
unmittelbare Gemeinschaft mit so einem selbstdenkenden und überlegenen
Kopfe setzt" (PP I, Hü 208). Und in den Parerga und Paralipomena II erklärt er:
Wenn „wir, von der Bewunderung eines großen Geistes, dessen Werke uns
eben beschäftigt haben, ergriffen, ihn zu uns heranwünschen, ihn sehn, spre-
chen, und unter uns besitzen möchten; so bleibt auch diese Sehnsucht nicht
unerwidert: denn auch er hat sich gesehnt nach einer anerkennenden Nach-
welt, welche ihm die Ehre, Dank und Liebe zollen würde, die eine neiderfüllte
Mitwelt ihm verweigerte" (PP II, Kap. 20, § 242, Hü 506-507).
Allerdings erscheint Schopenhauer die Lektüre eines Buches als Ersatz für
eine persönliche Bekanntschaft mit einem bewunderten großen Geist nicht als
Defizit oder gar - wie für N. - als „grosser Mangel". So erklärt Schopenhauer
in den Parerga und Paralipomena II im Kapitel „Ueber Lesen und Bücher": „Die
Werke sind die Quintessenz eines Geistes: sie werden daher, auch wenn
er der größte ist, stets ungleich gehaltreicher seyn, als sein Umgang, auch die-
sen im Wesentlichen ersetzen, - ja, ihn weit übertreffen und hinter sich lassen"
(PP II, Kap. 24, § 296a, Hü 594). - N. selbst zieht an einer späteren Stelle von
 
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