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Neymeyr, Barbara; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Contr.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 1,4): Kommentar zu Nietzsches "Unzeitgemässen Betrachtungen": III. Schopenhauer als Erzieher, IV. Richard Wagner in Bayreuth — Berlin, Boston: de Gruyter, 2020

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https://doi.org/10.11588/diglit.69928#0117
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90 Schopenhauer als Erzieher

ableiten ließe, obgleich keineswegs auch umgekehrt dieser schon dort zu fin-
den ist" (WWV I, Hü XII-XIII).
350, 23-31 Ich mache mir aus einem Philosophen gerade so viel als er im Stande
ist ein Beispiel zu geben. [...] Aber das Beispiel muss durch das sichtbare Leben
und nicht bloss durch Bücher gegeben werden, also dergestalt, wie die Philoso-
phen Griechenlands lehrten, durch Miene, Haltung, Kleidung, Speise, Sitte mehr
als durch Sprechen oder gar Schreiben.] Diesen Aspekt führt N. an späterer Stel-
le weiter: „Die einzige Kritik einer Philosophie, die möglich ist und die auch
etwas beweist, nämlich zu versuchen, ob man nach ihr leben könne, ist nie
auf Universitäten gelehrt worden" (417, 26-29). - Von der bei N. durch das
Vorbild antiker Philosophen angeregten Idealvorstellung einer Einheit von
Theorie und Praxis unterscheidet sich die Auffassung Schopenhauers funda-
mental, der in der Welt als Wille und Vorstellung gerade die Differenz betont
und sie auch für legitim hält: Es sei „so wenig nöthig, daß der Heilige ein
Philosoph, als daß der Philosoph ein Heiliger sei: so wie es nicht nöthig ist,
daß ein vollkommen schöner Mensch ein großer Bildhauer, oder daß ein gro-
ßer Bildhauer auch selbst ein schöner Mensch sei. Ueberhaupt ist es eine selt-
same Anforderung an einen Moralisten, daß er keine andere Tugend empfeh-
len soll, als die er selbst besitzt. Das ganze Wesen der Welt abstrakt, allgemein
und deutlich in Begriffen zu wiederholen, und es so als reflektirtes Abbild in
bleibenden und stets bereit liegenden Begriffen der Vernunft niederzulegen:
dieses und nichts anderes ist Philosophie" (WWV I, § 68, Hü 453).
351, 2-5 und doch ist es nur ein Wahn, dass ein Geist frei und selbständig sei,
wenn diese errungene Unumschränktheit - die im Grunde schöpferische Selbst-
umschränkung ist - nicht durch jeden Blick und Schritt von früh bis Abend neu
bewiesen wird.] Mit dieser Spezifikation des Freiheitsbegriffs grenzt N. hier kre-
ative Autonomie von bloßem laisser faire ab. Indem N. Freiheit mit Selbstbe-
stimmung im Sinne bewusster „Selbstumschränkung" korreliert, schafft er eine
Affinität zu wichtigen Aspekten der stoischen Philosophie. Obwohl er später in
Jenseits von Gut und Böse wiederholt Vorbehalte gegenüber der stoischen
„Selbst-Tyrannei" (KSA 5, 22, 20-21) und „Bildsäulenkälte" (KSA 5, 118, 21) for-
muliert, betont er zugleich auch das kreative Potential stoischer Selbstdis-
ziplin. In einer dialektischen Argumentation geht N. davon aus, dass gerade
aus moralischem „Zwang", „beschränkten Horizonten" und selbstauferlegter
„Zucht" Freiheit, Souveränität und geistige Stärke resultieren können (KSA 5,
108-109). Mit „allzugrosse[r] Freiheit" (KSA 5, 109, 33) hingegen sieht er die
Gefahr geistiger Diffusion verbunden, die zur Ursache einer unkreativen Ver-
fassung werden und auf diese Weise letztlich sogar die kulturelle Weiterent-
wicklung behindern kann. Da die Bündelung schöpferischer Energien eine
 
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