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Neymeyr, Barbara; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Contr.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 1,4): Kommentar zu Nietzsches "Unzeitgemässen Betrachtungen": III. Schopenhauer als Erzieher, IV. Richard Wagner in Bayreuth — Berlin, Boston: de Gruyter, 2020

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https://doi.org/10.11588/diglit.69928#0129
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102 Schopenhauer als Erzieher

Ergründung der Wahrheit sie nicht interessirt" (PP I, Hü 196). Vgl. ergänzend
NK 353, 17 (auch zum Ausdruck ,Sekretieren').
353, 10 Makulatur] 1. beim Druckvorgang schadhaft gewordener und fehler-
hafter Bogen, wieder einzustampfender Fehldruck, 2. Altpapier. Aus dem Kon-
text geht hervor, dass N. hier letzteres meint.
353, 17 „legor et legar"] Lateinisches Wortspiel mit Gegenwarts- und Zukunfts-
bezug: Ich werde gelesen, und ich werde gelesen werden. Dieses selbstbewuss-
te Diktum Schopenhauers zitiert N. aus der zweiten Vorrede der Schrift Ueber
den Willen in der Natur (Schriften zur Naturphilosophie und zur Ethik, Hü XIII):
Nachdem Schopenhauer jahrzehntelang unter dem Mangel an öffentlicher
Resonanz gelitten hatte, erlebte er gegen Ende seines Lebens noch seine wach-
sende Bekanntheit. Dadurch sah er sich veranlasst, über die Philosophieprofes-
soren, die er für seine Gegner hielt, wortreich zu triumphieren. Im Anschluss
an eine Bemerkung zum aktuellen Publikumsinteresse „an der Philosophie"
versetzt sich Schopenhauer mit ironischem Gestus in die Mentalität seiner ver-
meintlichen Widersacher: „Nichtsdestoweniger habe ich den Philosophiepro-
fessoren eine betrübte Nachricht mitzutheilen. Ihr Kaspar Hauser [...], den sie,
beinahe vierzig Jahre hindurch, von Licht und Luft so sorgfältig abgesperrt
und so fest eingemauert hatten, daß kein Laut sein Daseyn der Welt verrathen
konnte, - ihr Kaspar Hauser ist entsprungen! ist entsprungen und läuft in der
Welt herum; - Einige meinen gar, es sei ein Prinz. - Oder, in Prosa zu reden:
was sie über Alles fürchteten, daher mit vereinten Kräften und seltener Stand-
haftigkeit, mittelst eines so tiefen Schweigens, so einträchtigen Ignorirens und
Sekretirens, wie es noch nie dagewesen, über ein Menschenalter hinaus, glück-
lich zu verhüten gewußt haben, - dies Unglück ist dennoch eingetreten: man
hat angefangen, mich zu lesen, - und wird nun nicht wieder aufhören. Legor
et legar: es ist nicht anders. Wahrlich schlimm und höchst ungelegen; ja, eine
rechte Fatalität, wo nicht gar Kalamität. Ist Dies der Lohn, für so viel treue,
traute Schweigsamkeit? für so festes, einträchtiges Zusammenhalten? Bekla-
genswerthe Hofräthe!" (Schriften zur Naturphilosophie und zur Ethik, Hü XII-
XIII). - Von der Strategie des Schweigens oder ,Sekretierens' als probatem Mit-
tel, um philosophische Leistungen und ihre Urheber jahrzehntelang zu unter-
drücken, ist mehrfach auch in Schopenhauers Schrift Ueber die Universitäts-
Philosophie die Rede: vgl. PP I, Hü 152, 196 und weitere Belege in NK 352, 34 -
353, 8.
In Ecce homo greift N. in autobiographischem Kontext auf Schopenhauers
Diktum zurück, um es grimmig umzukehren: „Wie könnte ich, mit diesem
Gefühle der Distanz, auch nur wünschen, von den ,Modernen', die ich kenne -,
gelesen zu werden! - Mein Triumph ist gerade der umgekehrte, als der Scho-
 
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