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Neymeyr, Barbara; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Contr.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 1,4): Kommentar zu Nietzsches "Unzeitgemässen Betrachtungen": III. Schopenhauer als Erzieher, IV. Richard Wagner in Bayreuth — Berlin, Boston: de Gruyter, 2020

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https://doi.org/10.11588/diglit.69928#0131
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104 Schopenhauer als Erzieher

hingegeben haben, und den bezahlten Freudenmädchen" (PP I, Hü 164). In
diesem Sinne argumentiert N. auch in 411, 24-27: „Freiheit und immer wieder
Freiheit: dasselbe wunderbare und gefährliche Element, in welchem die grie-
chischen Philosophen aufwachsen durften." Schopenhauer erklärt in seiner
Schrift Ueber die Universitäts-Philosophie dezidiert: „Der Wahrheit ist die Atmo-
sphäre der Freiheit unentbehrlich" (PP I, Hü 161). „Das wirkliche Philosophie-
ren verlangt Unabhängigkeit" (PP I, Hü 206).
353, 32 Vereinsamung] Die Einsamkeit ist bei Schopenhauer ein wichtiges Mo-
tiv. Auch in N.s Werken und Briefen spielt die Einsamkeit eine besondere Rolle.
In Menschliches, Allzumenschliches I schreibt N. bezeichnenderweise in einem
Text mit dem Titel „Von den Freunden": „wie vereinsamt ist jeder
Mensch!" (KSA 2, 263, 5). In der Fröhlichen Wissenschaft findet sich ein Gedicht
mit dem Titel Der Einsame (KSA 3, 360). Und eine nachgelassene Notiz N.s aus
dem Sommer 1888 lautet: „einsame Tage, / ihr wollt auf tapferen Füßen gehn!"
(NL 1888, 20 [78], KSA 13, 563).
Schopenhauer bezeichnet die Einsamkeit wiederholt als das Los aller her-
vorragenden Geister. Im Kapitel „Paränesen und Maximen" der Aphorismen zur
Lebensweisheit schreibt er: „Ganz er selbst seyn darf Jeder nur so lange er
allein ist: wer also nicht die Einsamkeit liebt, der liebt auch nicht die Freiheit:
denn nur wann man allein ist, ist man frei. Zwang ist der unzertrennliche Ge-
fährte jeder Gesellschaft, und jede fordert Opfer, die um so schwerer fallen, je
bedeutender die eigene Individualität ist. Demgemäß wird Jeder in genauer
Proportion zum Werthe seines eigenen Selbst die Einsamkeit fliehen, ertragen,
oder lieben. Denn in ihr fühlt der Jämmerliche seine ganze Jämmerlichkeit, der
große Geist seine ganze Größe, kurz, Jeder sich als was er ist. Ferner, je höher
Einer auf der Rangliste der Natur steht, desto einsamer steht er, und zwar we-
sentlich und unvermeidlich" (PP I, Hü 447). Analog: WWV I, § 39, Hü 240. Die
Liebe zur Einsamkeit betrachtet Schopenhauer sogar als Indikator für den in-
tellektuellen Wert eines Menschen. Vor allem betont er den Hang des Genies
zur Einsamkeit. Geistige Eminenz führe notwendigerweise zur Ungeselligkeit.
Schopenhauer konstatiert, „daß das Genie wesentlich einsam lebt. Es ist zu
selten, als daß es leicht auf seines Gleichen treffen könnte, und zu verschieden
von den Uebrigen, um ihr Geselle zu sein" (WWV II, Kap. 31, Hü 446). - Der
Einsamkeitstopos, auf den Schopenhauer zurückgreift, ist zugleich auch ein
wesentlicher Bestandteil der romantischen Genieästhetik.
354, 1-3 die Philosophie eröffnet dem Menschen ein Asyl, wohin keine Tyrannei
dringen kann, die Höhle des Innerlichen, das Labyrinth der Brust] Hier verbindet
N. das Zitat aus einem Gedicht Goethes mit der Anspielung auf das berühmte
,Höhlengleichnis', das Platon in einem erkenntnistheoretischen Kontext seiner
 
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