112 Schopenhauer als Erzieher
Zustand ansetzt" (NL 1888, 15 [10], KSA 13, 410). Mit dieser These wirft N. sei-
nem früheren Lehrer über einen bloßen Irrtum hinaus sogar eine Haltung ab-
sichtlicher Erkenntnisverweigerung vor.
356, 17-25 Das ist seine Grösse, dass er dem Bilde des Lebens als einem Ganzen
sich gegenüberstellte, um es als Ganzes zu deuten; während die scharfsinnigsten
Köpfe nicht von dem Irrthum zu befreien sind, dass man dieser Deutung näher
komme, wenn man die Farben [...] peinlich untersuche; vielleicht mit dem Ergeb-
niss, es sei eine ganz intrikat gesponnene Leinewand und Farben darauf, die
chemisch unergründlich seien. Man muss den Maler errathen, um das Bild zu
verstehen, - das wusste Schopenhauer.] Mit seiner Forderung, der Philosoph
habe die Lebenstotalität zu deuten, schließt N. an die Geburt der Tragödie an.
Hier ist vom „Gesammtbilde der Welt" die Rede, dessen Erkenntnis den ,ech-
ten' Philosophen auszeichne, der „Weisheit" statt bloß partikularistischer „Wis-
senschaft" biete (KSA 1, 118, 29-32). Die „einzelnen Wissenschaften" benötigen
als Basisorientierung ein „regulatives Gesammtbild" (356, 29-31). Analoge The-
sen formuliert Schopenhauer in seiner Schrift Ueber die Universitäts-Philoso-
phie (PP I, Hü 170-171). Vgl. dazu NK 357, 7-11. - Die ästhetische Metapher vom
,Gemälde' oder ,Bild' des Lebens verwendet N. in UB III SE mehrfach (356, 28-
29; 357, 9; 361, 13; 367, 7). Sie findet sich bereits bei Schopenhauer, der in der
Welt als Wille und Vorstellung II erklärt: „Das Leben ist nie schön, sondern nur
die Bilder des Lebens sind es, nämlich im verklärenden Spiegel der Kunst oder
der Poesie" (WWV II, Kap. 30, Hü 428).
Von der Metapher vom ,Bild' des Lebens ausgehend, kontrastiert N. ein
intuitives Kunstverständnis, das er hier ausdrücklich Schopenhauer zuordnet,
mit dem akribischen Positivismus derer, die Farbe und Leinwand chemisch
analysieren wollen, durch ihre empirische Detailfixierung aber den Bezug zur
Totalität des Kunstwerks verlieren. Allerdings übersieht N. dabei zweierlei:
1. Obwohl auch Schopenhauer betont „Ein ächtes Kunstwerk darf eigentlich
nicht, um genießbar zu seyn, den Präambel einer Kunstgeschichte nöthig ha-
ben" (PP II, Kap. 19, § 234, Hü 479), hält er die Kenntnis des zeitgenössischen
künstlerischen Kontextes durchaus für wesentlich, um malerische Innovatio-
nen angemessen würdigen zu können (ebd.). 2. Die metaphysische Fundierung
der Ästhetik bei Schopenhauer schließt empirische Interessen und positivisti-
sche Prinzipien keineswegs aus. Anders als N. meint, empfiehlt Schopenhauer
selbst in seinen Parerga und Paralipomena II sogar ausdrücklich chemische
Farbanalysen. Im Hinblick auf eine „Sammlung von Gemälden aus der alten
Niederrheinischen Schule", vor allem auf „Johann van Eyck" als „ächtes
Genie" (PP II, Kap. 19, § 234, Hü 479), schreibt Schopenhauer: „Ihr Hauptver-
dienst, jedoch nur bei van Eyck und seinen besten Schülern, besteht in der
täuschendesten Nachahmung der Wirklichkeit [...]; sodann in der Lebhaftigkeit
Zustand ansetzt" (NL 1888, 15 [10], KSA 13, 410). Mit dieser These wirft N. sei-
nem früheren Lehrer über einen bloßen Irrtum hinaus sogar eine Haltung ab-
sichtlicher Erkenntnisverweigerung vor.
356, 17-25 Das ist seine Grösse, dass er dem Bilde des Lebens als einem Ganzen
sich gegenüberstellte, um es als Ganzes zu deuten; während die scharfsinnigsten
Köpfe nicht von dem Irrthum zu befreien sind, dass man dieser Deutung näher
komme, wenn man die Farben [...] peinlich untersuche; vielleicht mit dem Ergeb-
niss, es sei eine ganz intrikat gesponnene Leinewand und Farben darauf, die
chemisch unergründlich seien. Man muss den Maler errathen, um das Bild zu
verstehen, - das wusste Schopenhauer.] Mit seiner Forderung, der Philosoph
habe die Lebenstotalität zu deuten, schließt N. an die Geburt der Tragödie an.
Hier ist vom „Gesammtbilde der Welt" die Rede, dessen Erkenntnis den ,ech-
ten' Philosophen auszeichne, der „Weisheit" statt bloß partikularistischer „Wis-
senschaft" biete (KSA 1, 118, 29-32). Die „einzelnen Wissenschaften" benötigen
als Basisorientierung ein „regulatives Gesammtbild" (356, 29-31). Analoge The-
sen formuliert Schopenhauer in seiner Schrift Ueber die Universitäts-Philoso-
phie (PP I, Hü 170-171). Vgl. dazu NK 357, 7-11. - Die ästhetische Metapher vom
,Gemälde' oder ,Bild' des Lebens verwendet N. in UB III SE mehrfach (356, 28-
29; 357, 9; 361, 13; 367, 7). Sie findet sich bereits bei Schopenhauer, der in der
Welt als Wille und Vorstellung II erklärt: „Das Leben ist nie schön, sondern nur
die Bilder des Lebens sind es, nämlich im verklärenden Spiegel der Kunst oder
der Poesie" (WWV II, Kap. 30, Hü 428).
Von der Metapher vom ,Bild' des Lebens ausgehend, kontrastiert N. ein
intuitives Kunstverständnis, das er hier ausdrücklich Schopenhauer zuordnet,
mit dem akribischen Positivismus derer, die Farbe und Leinwand chemisch
analysieren wollen, durch ihre empirische Detailfixierung aber den Bezug zur
Totalität des Kunstwerks verlieren. Allerdings übersieht N. dabei zweierlei:
1. Obwohl auch Schopenhauer betont „Ein ächtes Kunstwerk darf eigentlich
nicht, um genießbar zu seyn, den Präambel einer Kunstgeschichte nöthig ha-
ben" (PP II, Kap. 19, § 234, Hü 479), hält er die Kenntnis des zeitgenössischen
künstlerischen Kontextes durchaus für wesentlich, um malerische Innovatio-
nen angemessen würdigen zu können (ebd.). 2. Die metaphysische Fundierung
der Ästhetik bei Schopenhauer schließt empirische Interessen und positivisti-
sche Prinzipien keineswegs aus. Anders als N. meint, empfiehlt Schopenhauer
selbst in seinen Parerga und Paralipomena II sogar ausdrücklich chemische
Farbanalysen. Im Hinblick auf eine „Sammlung von Gemälden aus der alten
Niederrheinischen Schule", vor allem auf „Johann van Eyck" als „ächtes
Genie" (PP II, Kap. 19, § 234, Hü 479), schreibt Schopenhauer: „Ihr Hauptver-
dienst, jedoch nur bei van Eyck und seinen besten Schülern, besteht in der
täuschendesten Nachahmung der Wirklichkeit [...]; sodann in der Lebhaftigkeit