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Neymeyr, Barbara; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Mitarb.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 1,4): Kommentar zu Nietzsches "Unzeitgemässen Betrachtungen": III. Schopenhauer als Erzieher, IV. Richard Wagner in Bayreuth — Berlin, Boston: de Gruyter, 2020

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https://doi.org/10.11588/diglit.69928#0143
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116 Schopenhauer als Erzieher

such einer Selbstkritik", den er 1886 der Neuausgabe der Geburt der Tragödie
voranstellte, sein Konzept des Tragischen sogar in expliziter Abgrenzung von
Schopenhauer: „Wie dachte doch Schopenhauer über die Tragödie? ,Was allem
Tragischen den eigenthümlichen Schwung zur Erhebung giebt - sagt er [...] -
ist das Aufgehen der Erkenntniss, dass die Welt, das Leben kein rechtes Genü-
gen geben könne, mithin unsrer Anhänglichkeit nicht werth sei: darin be-
steht der tragische Geist -, er leitet demnach zur Resignation hin'. Oh wie
anders redete Dionysos zu mir! Oh wie ferne war mir damals gerade dieser
ganze Resignationismus!" (KSA 1, 19, 28 - 20, 4). Zum Konzept des Tragischen
bei Schopenhauer und N. vgl. Neymeyr 2011.
358, 1-4 wie er aus dem Gefühl seiner Sündhaftigkeit sich hin nach dem Heiligen
sehnt, so trägt er, als intellectuelles Wesen, ein tiefes Verlangen nach dem Genius
in sich.] Hier schließt N. an Konzepte an, die Schopenhauer im Dritten und
Vierten Buch der Welt als Wille und Vorstellung I entfaltet: „Bei weiter gebilde-
tem Christenthum sehn wir nun jenen asketischen Keim sich zur vollen Blüthe
entfalten, in den Schriften der Christlichen Heiligen und Mystiker. Diese predi-
gen neben der reinsten Liebe auch völlige Resignation, freiwillige gänzliche
Armuth, wahre Gelassenheit, vollkommene Gleichgültigkeit gegen alle weltli-
chen Dinge, Absterben dem eigenen Willen und Wiedergeburt in Gott, gänzli-
ches Vergessen der eigenen Person und Versenken in die Anschauung Gottes"
(WWV I, § 68, Hü 457). - Den „Vorzug des Genius vor den Andern" erblickt
Schopenhauer darin, dass ihn der „Genuß alles Schönen, der Trost, den die
Kunst gewährt, der Enthusiasmus des Künstlers [...] die Mühen des Lebens ver-
gessen läßt" und so „das mit der Klarheit des Bewußtseyns in gleichem Maße
gesteigerte Leiden" zu kompensieren vermag (WWV I, § 52, Hü 315). Dem Geni-
us sei die „reine, wahre und tiefe Erkenntniß des Wesens der Welt [...] Zweck
an sich [...]." Daher fungiere sie für ihn - anders als „bei dem zur Resignation
gelangten Heiligen" - nicht als „Quietiv des Willens, erlöst ihn nicht auf im-
mer, sondern nur auf Augenblicke vom Leben, und ist ihm so noch nicht der
Weg aus demselben, sondern nur einstweilen ein Trost in demselben; bis seine
dadurch gesteigerte Kraft, endlich des Spieles müde, den Ernst ergreift"
(WWV I, § 52, Hü 316). Jean Amery sieht in N.s Vorstellung des ,Genius' in
UB III SE bereits „den Übermenschen [...] präsent" (Jean Amery [1975] 2004,
397) und setzt voraus, dass N. sich selbst meint, „wenn er vom Genius redet"
(ebd., 398), mithin letztlich „vom Übermenschen Nietzsche" spricht (ebd., 399).
Im vorliegenden Textzusammenhang erklärt N.: „Jeder Mensch pflegt in
sich eine Begrenztheit vorzufinden, seiner Begabung sowohl als seines sittli-
chen Wollens" (357, 33-34), die „ihn mit Sehnsucht und Melancholie erfüllt"
und „ein tiefes Verlangen nach dem Genius in sich" auslöst (358, 1-4). Diese
Aussagen instrumentalisiert Holm, um sie autobiographisch als implizites
 
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