126 Schopenhauer als Erzieher
362, 1-5 Hier ist der Grund, weshalb gerade die neueren Philosophen zu den
mächtigsten Förderern des Lebens, des Willens zum Leben gehören, und weshalb
sie sich aus ihrer ermatteten eignen Zeit nach einer Cultur, nach einer verklärten
Physis sehnen.] Der Begriff ,Wille zum Leben' signalisiert, dass N. hier implizit
auf Schopenhauer Bezug nimmt. Zeitkritisch konnotiert ist N.s Vitalismus inso-
fern, als er ihn als Antidot gegen die Krisensymptome der Decadence-Epoche
betrachtet. Vgl. dazu N.s UB II HL. - Bereits in Schopenhauers Schrift Ueber
die Universitäts-Philosophie ist tendenziell eine zeitkritische Decadence-Diag-
nose zu erkennen: Wird in der Philosophie „das Falsche in Cours gebracht und
überall, als das Wahre und Aechte [...] ausgeschrien; so wird der Geist der Zeit
vergiftet" (PP I, Hü 166). Schopenhauer hält die Philosophie Hegels für „die
Ursache der ganzen Degradation der Philosophie und, in Folge davon, des Ver-
falls der höhern Litteratur überhaupt" (PP I, Hü 184).
362, 11-18 Wenn jeder grosse Mensch auch am liebsten gerade als das ächte
Kind seiner Zeit angesehn wird [...], so ist der Kampf eines solchen Grossen ge-
gen seine Zeit scheinbar nur ein unsinniger und zerstörender Kampf gegen sich
selbst. Aber eben nur scheinbar; denn in ihr bekämpft er das, was ihn hindert,
gross zu sein, das bedeutet bei ihm nur: frei und ganz er selbst zu sein.] Die von
N. hervorgehobene Problematik der Unzeitgemäßheit findet sich bereits in der
Welt als Wille und Vorstellung II: Hier behauptet Schopenhauer, dass die beson-
dere Begabung des Genies „keineswegs geeignet ist, ihm einen glücklichen
Lebenslauf zu bereiten, vielmehr das Gegentheil. [...] Dazu kommt noch ein
Mißverhältniß nach außen, indem das Genie, in seinem Treiben und Leisten
selbst, meistens mit seiner Zeit im Widerspruch und Kampfe steht" (WWV II,
Kap. 31, Hü 447). Zuvor schreibt Schopenhauer bereits in der Welt als Wille und
Vorstellung I: „Man lese die Klagen großer Geister, aus jedem Jahrhundert, über
ihre Zeitgenossen: stets lauten sie wie von heute; weil das Geschlecht immer
das selbe ist" (WWV I, § 49, Hü 279).
Um den Zusammenhang von Freiheit und Authentizität zu zeigen, zitiert
N. hier implizit eine Partie aus Schopenhauers populärstem Werk: aus den
Aphorismen zur Lebensweisheit (vgl. 5.B.9): „Ganz er selbst seyn darf Jeder
nur so lange er allein ist: wer also nicht die Einsamkeit liebt, der liebt auch
nicht die Freiheit: denn nur wann man allein ist, ist man frei" (PP I, Hü 447).
In analogem Sinne verbindet N. „Selbstigkeit", Freiheit und Reinheit in der
Schlusspartie von UB IV WB, hier konkret im Hinblick auf Wagners Siegfried-
Gestalt, die N. zu einem idealen Typus stilisiert. Vgl. z. B. KSA 1, 509, 29-31:
„Und die Freien, Furchtlosen, in unschuldiger Selbstigkeit aus sich Wachsen-
den und Blühenden, die Siegfriede unter euch?"
362, 22-23 gegen die falsche Anlöthung des Zeitgemässen an sein Unzeitge-
mässes] N. gebraucht hier eine Metapher aus dem Bereich der Metallverarbei-
362, 1-5 Hier ist der Grund, weshalb gerade die neueren Philosophen zu den
mächtigsten Förderern des Lebens, des Willens zum Leben gehören, und weshalb
sie sich aus ihrer ermatteten eignen Zeit nach einer Cultur, nach einer verklärten
Physis sehnen.] Der Begriff ,Wille zum Leben' signalisiert, dass N. hier implizit
auf Schopenhauer Bezug nimmt. Zeitkritisch konnotiert ist N.s Vitalismus inso-
fern, als er ihn als Antidot gegen die Krisensymptome der Decadence-Epoche
betrachtet. Vgl. dazu N.s UB II HL. - Bereits in Schopenhauers Schrift Ueber
die Universitäts-Philosophie ist tendenziell eine zeitkritische Decadence-Diag-
nose zu erkennen: Wird in der Philosophie „das Falsche in Cours gebracht und
überall, als das Wahre und Aechte [...] ausgeschrien; so wird der Geist der Zeit
vergiftet" (PP I, Hü 166). Schopenhauer hält die Philosophie Hegels für „die
Ursache der ganzen Degradation der Philosophie und, in Folge davon, des Ver-
falls der höhern Litteratur überhaupt" (PP I, Hü 184).
362, 11-18 Wenn jeder grosse Mensch auch am liebsten gerade als das ächte
Kind seiner Zeit angesehn wird [...], so ist der Kampf eines solchen Grossen ge-
gen seine Zeit scheinbar nur ein unsinniger und zerstörender Kampf gegen sich
selbst. Aber eben nur scheinbar; denn in ihr bekämpft er das, was ihn hindert,
gross zu sein, das bedeutet bei ihm nur: frei und ganz er selbst zu sein.] Die von
N. hervorgehobene Problematik der Unzeitgemäßheit findet sich bereits in der
Welt als Wille und Vorstellung II: Hier behauptet Schopenhauer, dass die beson-
dere Begabung des Genies „keineswegs geeignet ist, ihm einen glücklichen
Lebenslauf zu bereiten, vielmehr das Gegentheil. [...] Dazu kommt noch ein
Mißverhältniß nach außen, indem das Genie, in seinem Treiben und Leisten
selbst, meistens mit seiner Zeit im Widerspruch und Kampfe steht" (WWV II,
Kap. 31, Hü 447). Zuvor schreibt Schopenhauer bereits in der Welt als Wille und
Vorstellung I: „Man lese die Klagen großer Geister, aus jedem Jahrhundert, über
ihre Zeitgenossen: stets lauten sie wie von heute; weil das Geschlecht immer
das selbe ist" (WWV I, § 49, Hü 279).
Um den Zusammenhang von Freiheit und Authentizität zu zeigen, zitiert
N. hier implizit eine Partie aus Schopenhauers populärstem Werk: aus den
Aphorismen zur Lebensweisheit (vgl. 5.B.9): „Ganz er selbst seyn darf Jeder
nur so lange er allein ist: wer also nicht die Einsamkeit liebt, der liebt auch
nicht die Freiheit: denn nur wann man allein ist, ist man frei" (PP I, Hü 447).
In analogem Sinne verbindet N. „Selbstigkeit", Freiheit und Reinheit in der
Schlusspartie von UB IV WB, hier konkret im Hinblick auf Wagners Siegfried-
Gestalt, die N. zu einem idealen Typus stilisiert. Vgl. z. B. KSA 1, 509, 29-31:
„Und die Freien, Furchtlosen, in unschuldiger Selbstigkeit aus sich Wachsen-
den und Blühenden, die Siegfriede unter euch?"
362, 22-23 gegen die falsche Anlöthung des Zeitgemässen an sein Unzeitge-
mässes] N. gebraucht hier eine Metapher aus dem Bereich der Metallverarbei-