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Neymeyr, Barbara; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Contr.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 1,4): Kommentar zu Nietzsches "Unzeitgemässen Betrachtungen": III. Schopenhauer als Erzieher, IV. Richard Wagner in Bayreuth — Berlin, Boston: de Gruyter, 2020

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https://doi.org/10.11588/diglit.69928#0226
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Stellenkommentar UB III SE 5, KSA 1, S. 382-383 199

heißt es: „Dadurch allein haben wir in der That eine Anticipation Dessen, was
die Natur (die ja eben der Wille ist, der unser eigenes Wesen ausmacht) darzu-
stellen sich bemüht; welche Anticipation im ächten Genius von dem Grade der
Besonnenheit begleitet ist, daß er, indem er im einzelnen Dinge dessen Idee
erkennt, gleichsam die Natur auf halbem Worte versteht und nun rein
ausspricht, was sie nur stammelt, daß er die Schönheit der Form, welche ihr
in tausend Versuchen mißlingt, dem harten Marmor aufdrückt, sie der Natur
gegenüberstellt, ihr gleichsam zurufend: ,Das war es, was du sagen wolltest!'
und Ja, Das war es!' hallt es aus dem Kenner wider" (WWV I, § 45, Hü 262.
Analog: WWV I, § 36, Hü 220).
382, 19-22 „Ich habe es oft gesagt [...], die causa finalis der Welt- und Men-
schenhändel ist die dramatische Dichtkunst. Denn das Zeug ist sonst absolut zu
nichts zu brauchen."] Zitat aus einem Brief Goethes an Charlotte von Stein
(3. März 1785). Goethe verwendet den Terminus ,causa finalis' hier (Goethe:
FA, Bd. 29, 575) im Sinne Spinozas, der die teleologische Naturbetrachtung al-
lerdings als bloße Projektion menschlichen Zweckdenkens ablehnt. - Der Be-
griff ,causa finalis' geht auf Aristoteles zurück, nach dessen Terminologie vier
Ursachen voneinander zu unterscheiden sind: ,causa materialis' (Stoffursa-
che), ,causa formalis' (Formursache), ,causa efficiens' (Wirkursache) und ,cau-
sa finalis' (Zweckursache). Die Differenzierung zwischen ,causa efficiens' und
,causa finalis' dient dazu, kausal begründete Naturvorgänge von intentionalen
menschlichen Handlungen zu unterscheiden, denen durch die ihnen zugrunde
liegende Absichtlichkeit des Handelnden eine teleologische Perspektive eigen
ist. Die Finalursache gibt demnach einen intendierten Zweck als die Ursache
eines Ereignisses an.
382, 23 so bedarf die Natur zuletzt des Heiligen] Anspielung auf die Philoso-
phie Schopenhauers, insbesondere die Ethik, die er im Vierten Buch der Welt
als Wille und Vorstellung entwickelt. Die Überwindung des existentiellen Lei-
dens ist laut Schopenhauer nur durch die Suspendierung des principium indi-
viduationis möglich, durch eine Überschreitung der Grenzen des eigenen Ich,
die er als notwendige Voraussetzung sowohl für das Mitleid als auch für die
asketische Lebensform des Heiligen betrachtet. Die Verneinung des Willens
zum Leben ermöglicht seiner Auffassung zufolge dann einen Zustand der Ge-
lassenheit und die Erlösung vom willensbedingten Leiden. Vgl. auch NK 380,
15-17.
383, 7 Pessimismus] Der Begriff, den N. zur Charakterisierung der Philosophie
Schopenhauers verwendet, signalisiert ein Ungenügen am Gegenwärtigen, das
zu tatkräftigem Engagement für eine bessere Zukunft motivieren soll: aus
„Sehnsucht nach Kultur" (383, 8-9). Schopenhauer selbst schreibt dem „Brah-
 
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