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Neymeyr, Barbara; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Contr.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 1,4): Kommentar zu Nietzsches "Unzeitgemässen Betrachtungen": III. Schopenhauer als Erzieher, IV. Richard Wagner in Bayreuth — Berlin, Boston: de Gruyter, 2020

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https://doi.org/10.11588/diglit.69928#0240
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Stellenkommentar UB III SE 6, KSA 1, S. 388-389 213

er zu einem falschen Schlüsse über den Inhalt genöthigt werden: in der Voraus-
setzung, dass man für gewöhnlich das Innere nach der Aussenseite beurtheilt.]
Im spezifischeren Kontext der Stilistik beschreibt Schopenhauer in seinem
Hauptwerk ein ähnliches Verhältnis zwischen einem trivialen oder hässlichen
Inhalt und dem Bemühen, ihn durch prätentiöse Formgebung zu kaschieren:
So „wird jeder schöne und gedankenreiche Geist sich immer auf die natürlich-
ste, unumwundenste, einfachste Weise ausdrücken"; hingegen „wird Geistes-
armuth, Verworrenheit, Verschrobenheit sich in die gesuchtesten Ausdrücke
und dunkelsten Redensarten kleiden, um so in schwierige und pomphafte
Phrasen kleine, winzige, nüchterne, oder alltägliche Gedanken zu verhüllen,
Demjenigen gleich, der, weil ihm die Majestät der Schönheit abgeht, diesen
Mangel durch die Kleidung ersetzen will und [...] die Winzigkeit oder Häßlich-
keit seiner Person zu verstecken sucht" (WWV I, § 47, Hü 270-271).
Während N. die dekorative Fassade, die einen trivialen Inhalt kaschieren
soll, generell im Hinblick auf die Kultur problematisiert, wendet sich Schopen-
hauer in spezifischerem Sinne kritisch gegen geistige Depravationen in den
„redenden Künste[n]" (WWV I, § 47, Hü 270) und in der Philosophie. In seiner
Schrift Ueber die Universitäts-Philosophie polemisiert er gegen die „angebli-
chen Philosophen" in der Epoche nach Kant, die sich „wenn auch nicht immer
mit deutlichem Bewußtseyn, auf den bloßen Schein der Sache, auf Effektma-
chen, Imponiren, ja, Mystificiren" konzentrieren und darüber „die Erforschung
der Wahrheit" vernachlässigen (PP I, Hü 162). - N. bringt diesen Aspekt fassa-
denhafter Inszenierung in UB II HL auf den Begriff der ,Dekoration' und der
„dekorativen Cultur" (KSA 1, 334, 13). Zur Bewältigung der Epigonen-Pro-
blematik empfiehlt er hier eine redliche Selbstbesinnung und die Abkehr von
einer sterilen Imitation bereits vorgegebener kultureller Muster. Es gelte „zu
begreifen, dass Cultur noch etwas Andres sein kann als Dekoration des
Lebens, das heisst im Grunde doch immer nur Verstellung und Verhüllung"
(KSA 1, 333, 32 - 334, 1).
389, 29-30 dass die modernen Menschen sich grenzenlos aneinander langwei-
len] Die Thematik der Langeweile hat in Schopenhauers Philosophie besondere
Relevanz. Auch in der Literatur der Restaurationszeit kommt ihr ein für die
Kultur der Epoche charakteristischer Stellenwert zu. Bedeutsam sind Ennui
und Langeweile beispielsweise für symptomatische Handlungskonstellationen
im CEuvre Georg Büchners. So ist der Protagonist Danton in Büchners Revoluti-
onsdrama Dantons Tod in auffallendem Maße von Lebensüberdruss, Lethargie
und Langeweile geprägt. Entsprechendes gilt phasenweise auch für die Figur
Lenz in Büchners gleichnamiger Erzählung sowie für den Prinzen Leonce in
seinem Lustspiel Leonce und Lena. Indem Büchner die Konventionen und
Rituale der höfischen Gesellschaft als langweiliges, da mit maschinenartiger
 
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