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Neymeyr, Barbara; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Contr.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 1,4): Kommentar zu Nietzsches "Unzeitgemässen Betrachtungen": III. Schopenhauer als Erzieher, IV. Richard Wagner in Bayreuth — Berlin, Boston: de Gruyter, 2020

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https://doi.org/10.11588/diglit.69928#0249
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222 Schopenhauer als Erzieher

bewusste Diktum Schopenhauers in UB III SE (353, 17). Vgl. dazu NK 353, 17.
Vgl. ergänzend auch NK 352, 34 - 353, 8.
394, 16-18 „Trieb zur Wahrheit" [...] wie sollte es überhaupt einen Trieb nach
der kalten, reinen, folgenlosen Erkenntniss geben können!] Mit den Ansichten
der Philosophen, die von der Möglichkeit einer reinen, interesselosen, von sub-
jektiven Motiven ganz unabhängigen Erkenntnis ausgehen, setzt sich N. auch
in seiner nachgelassenen Frühschrift Ueber Wahrheit und Lüge im aussermora-
lischen Sinne kritisch auseinander. Hier bestimmt er Wahrheit als sprachlich
vermittelte Konvention, die keineswegs dem Anspruch auf objektive Erkennt-
nis genügt (vgl. KSA 1, 876, 880-881). N. hält „Wahrheit" für ein „bewegliches
Heer von Metaphern, Metonymien, Anthropomorphismen kurz eine Summe
von menschlichen Relationen, die, poetisch und rhetorisch gesteigert, übertra-
gen, geschmückt wurden, und die nach langem Gebrauche einem Volke fest,
canonisch und verbindlich dünken" (KSA 1, 880, 30-34). Konsequenterweise
verwendet N. den Wahrheitsbegriff anschließend sogar in der Pluralform:
„die Wahrheiten sind Illusionen, von denen man vergessen hat, dass sie wel-
che sind, Metaphern, die abgenutzt und sinnlich kraftlos geworden sind"
(KSA 1, 880, 34 - 881, 3). Zur Suspendierung des Wahrheitsanspruchs im Zu-
sammenhang mit N.s Experimental-Metaphorik vgl. Neymeyr 2014a, 232-254
und 2016b, 323-353.
Obwohl N.s Skepsis gegenüber dem Konzept einer reinen, interesselosen
Erkenntnis den Prämissen Schopenhauers im Hinblick auf Kunst und Philoso-
phie nicht entspricht, schließt N. hier doch an Schopenhauers prinzipielle Ein-
schätzung der Relation zwischen Willen und Intellekt an: Beim Menschen fun-
giert der Intellekt laut Schopenhauer als Erkenntnisinstrument, das der Wille
zur Befriedigung seiner komplexen Bedürfnisse ausgebildet hat. Die reine inte-
resse- und willenlose Betrachtung im Zustand ästhetischer Kontemplation oder
philosophischer Reflexion beschreibt Schopenhauer demgegenüber als einen
jeweils nur vorübergehend auftretenden Sonderfall von Erkenntnis, der sich
von der Normalität des durch den Willen instrumentalisierten Intellekts funda-
mental unterscheidet. In seiner Schrift Ueber die Universitäts-Philosophie be-
tont Schopenhauer die Aufgabe der Philosophie, sich für eine kompromisslose
„Wahrheitsforschung" zu engagieren (PP I, Hü 149, 158, 167, 190, 204).
394, 21-22 die Gelehrten zu untersuchen und zu seciren] N. vollzieht hier eine
Inversion der Perspektive: Er will die Gelehrten, die sonst Subjekt der For-
schung sind und nach seiner Auffassung zu einer pietätlosen Okkupation
sämtlicher Naturphänomene tendieren, nun selbst zum Objekt einer Sektion
machen. Die aus der Medizin stammende Metapher des Sezierens, die auch
Schriftsteller wie Flaubert verwendeten, war in der zweiten Hälfte des 19. Jahr-
 
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