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Neymeyr, Barbara; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Contr.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 1,4): Kommentar zu Nietzsches "Unzeitgemässen Betrachtungen": III. Schopenhauer als Erzieher, IV. Richard Wagner in Bayreuth — Berlin, Boston: de Gruyter, 2020

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https://doi.org/10.11588/diglit.69928#0256
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Stellenkommentar UB III SE 6, KSA 1, S. 397 229

Gang Glück, der langsame Leiden heißt, unterhalten werde, und nicht in jenes
Stocken gerathe, das sich als furchtbare, lebenserstarrende Langeweile, mattes
Sehnen ohne bestimmtes Objekt, ertödtender languor zeigt" (WWV I, § 29,
Hü 196). Auch in der „Regsamkeit unsers Geistes" sieht Schopenhauer nichts
anderes als „eine fortdauernd zurückgeschobene Langeweile" (WWV I, § 57,
Hü 367). Zur systematischen Problematik der Langeweile-Konzeption im Span-
nungsfeld von Schopenhauers Voluntarismus und zu seinen Konzepten des
Glücks vgl. Neymeyr 1996a, 129-148 und 1996b, 133-165.
In den Aphorismen zur Lebensweisheit zieht Schopenhauer lebensprakti-
sche Konsequenzen aus seiner Konzeption der Langeweile, indem er erklärt,
dass die jeweils vorhandene Disposition zur Not oder zur Langeweile bei jedem
Menschen individuell „durch das Maaß seiner Geisteskräfte bestimmt" ist
(PP I, Hü 349): „der Reichthum des Geistes [...] läßt, je mehr er sich der Emi-
nenz nähert, der Langenweile immer weniger Raum. Die unerschöpfliche Reg-
samkeit der Gedanken aber, ihr an den mannigfaltigen Erscheinungen der
Innen- und Außenwelt sich stets erneuerndes Spiel, die Kraft und der Trieb
zu immer andern Kombinationen derselben, setzen den eminenten Kopf, die
Augenblicke der Abspannung abgerechnet, ganz außer den Bereich der Lan-
genweile" (PP I, Hü 350). Vgl. auch NK 373, 32-34 und NK 379, 32-34; mit Ein-
beziehung des kulturgeschichtlichen Kontextes vgl. NK 389, 29-30.
397, 24-27 Während der wirkliche Denker nichts mehr ersehnt als Musse [sic],
flieht der gewöhnliche Gelehrte vor ihr, weil er mit ihr nichts anzufangen weiss.
Seine Tröster sind die Bücher: das heisst, er hört zu, wie jemand Anderes denkt]
Wie N. betont auch bereits Schopenhauer den Wert der Muße. In den Aphoris-
men zur Lebensweisheit schreibt er: So „ist die errungene freie Muße eines
Jeden, indem sie ihm den freien Genuß seines Bewußtseyns und seiner Indivi-
dualität giebt, die Frucht und der Ertrag seines gesammten Daseyns" (PP I,
Hü 351). Aufschlussreiche Spezifikationen im Hinblick auf den „eminenten
Kopf" bieten ebenfalls die Aphorismen zur Lebensweisheit: „Der geistreiche
Mensch wird vor Allem nach Schmerzlosigkeit, [...] Ruhe und Muße streben,
folglich ein stilles, bescheidenes, aber möglichst unangefochtenes Leben su-
chen und demgemäß [...] die Zurückgezogenheit und, bei großem Geiste, sogar
die Einsamkeit wählen" (PP I, Hü 350-351). Die Muße beschreibt Schopenhauer
mithin als eine wichtige Voraussetzung für die Entwicklung des Selbstdenkers,
der es nicht nötig hat, die Lektüre fremder Bücher als Surrogat eigener Gedan-
ken zu benutzen. Im Kapitel 21 „Ueber Gelehrsamkeit und Gelehrte" der Parer-
ga und Paralipomena II schreibt Schopenhauer: „Wie nun das viele Lesen
und Lernen dem eigenen Denken Abbruch thut; so entwöhnt das viele
Schreiben und Lehren den Menschen von der Deutlichkeit und eo ipso
 
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