Stellenkommentar UB III SE 6, KSA 1, S. 398 233
Kant alle Beweise" unter der „spekulative [n] Theologie [...] weggezo-
gen und sie dadurch radikal umgestoßen hat", geben sie dennoch „die speku-
lative Theologie für den ganz eigentlichen und wesentlichen Gegenstand der
Philosophie" aus; dabei reden sie „immerfort vom Absolutum", „weil sie jene
explodirten Beweise wieder aufzunehmen sich doch nicht unterstehn" (PP I,
Hü 196-197). Diese spezifische Konstellation der sogenannten ,Gottesbeweise'
erscheint wie eine Exemplifikation der von N. beschriebenen Problematik.
398, 24-25 wie es denn nirgends wo und auch hier nicht an „moralischen Idio-
tismen" fehlt, die man sonst Schelmenstreiche nennt.] Im Altgriechischen ist der
Begriff jdiotes' (iöiWTqc;) ursprünglich nicht so pejorativ konnotiert wie das
später auf seiner Basis entstandene Fremdwort: Er bezeichnet zunächst die Pri-
vatperson, die sich aus öffentlichen Angelegenheiten heraushält, dann aber
auch den Laien, der wegen fehlender Spezialkenntnisse kein Sachverständiger
ist. Darüber hinaus ist freilich auch der Pfuscher, Stümper oder generell der
unwissende Mensch mit dem Begriff jdiotes' gemeint. Später wurde die Bedeu-
tung des Begriffs zunehmend ins Negative verschoben. Bis ins frühe 20. Jahr-
hundert gebrauchte man den medizinischen Terminus ,Idiotie' in der Psychiat-
rie, um spezifische Ausprägungen einer geistigen Behinderung zu bezeichnen.
Die Brücke zur ursprünglichen, auf Privatheit zielenden Bedeutung des Wortes
liegt dann im Mangel an intersubjektiver Vermittlungsfähigkeit. Im Rahmen
seiner Gelehrtensatire (394-399) kritisiert N. hier ein Fehlverhalten im Hinblick
auf den Umgang mit Wahrheit und Irrtum.
Wenn N. die „moralischen Idiotismen" zum Thema macht, zitiert er aus
Goethes Übersetzung von Diderots Le neveu de Rameau. Der Passus lautet:
„Was das betrifft, man sagt, wenn ein Räuber den andern beraubt, so lacht der
Teufel dazu. Die Eltern strotzten von ungeheurem, Gott weiß wie erworbenem
Gute. Es waren Hofleute, Finanzleute, große Kaufleute, Banquiers, Mäckler. Ich
und viele andre, die sie brauchten wie mich, wir erleichterten ihnen die gute
Handlung des Wiedererstattens. In der Natur fressen sich alle Gattungen, alle
Stände fressen sich in der Gesellschaft, wir strafen einer den andern, ohne daß
das Gesetz sich drein mische. Die Deschamps sonst, wie jetzt die Guimard,
rächt den Prinzen am Finanzmann; die Modehändlerinnen, der Juwelenhänd-
ler, der Tapezierer, die Wäscherin, der Gauner, das Kammermädchen, der
Koch, der Sattler rächen den Finanzmann an der Deschamps, und indessen
ist's nur der Unfähige, der Faule, der zu kurz kommt, ohne jemand verkürzt
zu haben, und das geschieht ihm Recht, und daran seht Ihr, daß alle die Aus-
nahmen vom allgemeinen Gewissen, alle diese moralischen Idiotismen, über
die man so viel Lärm macht, und sie Schelmstreiche nennt, gar nichts heißen
wollen, und daß es überhaupt nur darauf ankommt, wer den rechten Blick
hat" (Goethe: Sämmtliche Werke in vierzig Bänden, Bd. 29, 1856, 242-243).
Kant alle Beweise" unter der „spekulative [n] Theologie [...] weggezo-
gen und sie dadurch radikal umgestoßen hat", geben sie dennoch „die speku-
lative Theologie für den ganz eigentlichen und wesentlichen Gegenstand der
Philosophie" aus; dabei reden sie „immerfort vom Absolutum", „weil sie jene
explodirten Beweise wieder aufzunehmen sich doch nicht unterstehn" (PP I,
Hü 196-197). Diese spezifische Konstellation der sogenannten ,Gottesbeweise'
erscheint wie eine Exemplifikation der von N. beschriebenen Problematik.
398, 24-25 wie es denn nirgends wo und auch hier nicht an „moralischen Idio-
tismen" fehlt, die man sonst Schelmenstreiche nennt.] Im Altgriechischen ist der
Begriff jdiotes' (iöiWTqc;) ursprünglich nicht so pejorativ konnotiert wie das
später auf seiner Basis entstandene Fremdwort: Er bezeichnet zunächst die Pri-
vatperson, die sich aus öffentlichen Angelegenheiten heraushält, dann aber
auch den Laien, der wegen fehlender Spezialkenntnisse kein Sachverständiger
ist. Darüber hinaus ist freilich auch der Pfuscher, Stümper oder generell der
unwissende Mensch mit dem Begriff jdiotes' gemeint. Später wurde die Bedeu-
tung des Begriffs zunehmend ins Negative verschoben. Bis ins frühe 20. Jahr-
hundert gebrauchte man den medizinischen Terminus ,Idiotie' in der Psychiat-
rie, um spezifische Ausprägungen einer geistigen Behinderung zu bezeichnen.
Die Brücke zur ursprünglichen, auf Privatheit zielenden Bedeutung des Wortes
liegt dann im Mangel an intersubjektiver Vermittlungsfähigkeit. Im Rahmen
seiner Gelehrtensatire (394-399) kritisiert N. hier ein Fehlverhalten im Hinblick
auf den Umgang mit Wahrheit und Irrtum.
Wenn N. die „moralischen Idiotismen" zum Thema macht, zitiert er aus
Goethes Übersetzung von Diderots Le neveu de Rameau. Der Passus lautet:
„Was das betrifft, man sagt, wenn ein Räuber den andern beraubt, so lacht der
Teufel dazu. Die Eltern strotzten von ungeheurem, Gott weiß wie erworbenem
Gute. Es waren Hofleute, Finanzleute, große Kaufleute, Banquiers, Mäckler. Ich
und viele andre, die sie brauchten wie mich, wir erleichterten ihnen die gute
Handlung des Wiedererstattens. In der Natur fressen sich alle Gattungen, alle
Stände fressen sich in der Gesellschaft, wir strafen einer den andern, ohne daß
das Gesetz sich drein mische. Die Deschamps sonst, wie jetzt die Guimard,
rächt den Prinzen am Finanzmann; die Modehändlerinnen, der Juwelenhänd-
ler, der Tapezierer, die Wäscherin, der Gauner, das Kammermädchen, der
Koch, der Sattler rächen den Finanzmann an der Deschamps, und indessen
ist's nur der Unfähige, der Faule, der zu kurz kommt, ohne jemand verkürzt
zu haben, und das geschieht ihm Recht, und daran seht Ihr, daß alle die Aus-
nahmen vom allgemeinen Gewissen, alle diese moralischen Idiotismen, über
die man so viel Lärm macht, und sie Schelmstreiche nennt, gar nichts heißen
wollen, und daß es überhaupt nur darauf ankommt, wer den rechten Blick
hat" (Goethe: Sämmtliche Werke in vierzig Bänden, Bd. 29, 1856, 242-243).