236 Schopenhauer als Erzieher
10), außerdem den Begriff der ,Philisterei' und des ,Philisterhaften'. Belege da-
für bietet Schopenhauers Schrift Ueber die Universitäts-Philosophie (PP I,
Hü 158, 164, 177). Vgl. auch NK 370, 31. - Indem N. den bloßen Bildungsphilis-
ter mit dem Genie kontrastiert (401, 2), schließt er an die schon in Schopenhau-
ers Hauptwerk relevante Opposition von Genie und Philister an: In der Welt
als Wille und Vorstellung II betont Schopenhauer im Kapitel „Vom Genie" den
Gegensatz zwischen der „Kindlichkeit", „Naivetät und erhabenen Einfalt" des
Genies einerseits und der „trockene[n] Ernsthaftigkeit der Gewöhnlichen" an-
dererseits, die sich als „eingefleischte Philister" erweisen können (WWV II,
Kap. 31, Hü 452-453). - Schopenhauer seinerseits greift auf die in der Roman-
tik bereits etablierte Opposition von Künstler und Philister zurück. Insbesonde-
re las er Werke Tiecks, der als erster Romantiker den Bürger und Philister aufs
Korn genommen hatte: in den Schildbürgern (1796), im Gestiefelten Kater (1797)
und in Prinz Zerbino (1797).
402, 5-7 Jetzt schon wird der Einzelne, welcher jenen neuen Grundgedanken der
Kultur verstanden hat, vor einen Kreuzweg gestellt] Hier und im Folgenden fun-
giert eine der bekanntesten Fabeln der Antike als Subtext: die Fabel des Prodi-
kos (5. Jh. v. Chr.) von Herakles am Scheidewege. Sie wurde bereits in der
Antike und später auch in der Neuzeit intensiv rezipiert, besonders in der mo-
ralisch-pädagogischen Literatur. Xenophon erzählt die Fabel des Prodikos in
seinen Erinnerungen an Sokrates (Memorabilien II 1, 21-34), die auch zu N.s
Lektüren gehörten. Diese Fabel thematisiert die Situation des jugendlichen He-
rakles, der im Übergang zum Mannesalter zwischen zwei verschiedenen Le-
benswegen zu wählen hat: zwischen dem leichten Weg eines Lebens, das von
sinnlichen Genüssen und von Annehmlichkeiten aller Art bestimmt ist (volup-
tas), und dem schweren Weg einer Existenz, die sich dem Postulat der virtus
verpflichtet fühlt und von Arbeit, Leistung und Verantwortung für die Mensch-
heit geprägt ist (vgl. dazu Jochen Schmidt 2008, Bd. 1, 295-341).
N. transformiert zwar den „Scheideweg" in einen „Kreuzweg", übernimmt
aber ansonsten genau das Schema, auf dem die Fabel des Prodikos basiert:
Der Weg der Genüsse und Annehmlichkeiten, für den sich der „ungeheure
Schwarm" der „Wandrer" entscheidet (402, 22-23), ist bequem, jener hingegen,
der von dem „Einzelne[n]" (402, 6) bzw. von der „kleineren Schaar" (402, 29)
der „Widerspänstigen und Einsamen" (402, 26-27) gewählt wird, erweist sich
als schwierig. Im vorliegenden Kontext adaptiert N. auch die Dramaturgie der
Prodikos-Fabel. Die Rolle der voluptas überträgt er auf die Bequemlichkeiten
der „modischen ,Kultur'" (403, 10-11) und auf die konventionelle Orientierung
am „Zeitgeist" (403, 14). Dabei lässt er die „verführerischen Stimmen jener mo-
dischen ,Kultur'" (403, 10-11) sogar in direkter Rede sprechen: „Folgt mir [...]"
(403, 14-24).
10), außerdem den Begriff der ,Philisterei' und des ,Philisterhaften'. Belege da-
für bietet Schopenhauers Schrift Ueber die Universitäts-Philosophie (PP I,
Hü 158, 164, 177). Vgl. auch NK 370, 31. - Indem N. den bloßen Bildungsphilis-
ter mit dem Genie kontrastiert (401, 2), schließt er an die schon in Schopenhau-
ers Hauptwerk relevante Opposition von Genie und Philister an: In der Welt
als Wille und Vorstellung II betont Schopenhauer im Kapitel „Vom Genie" den
Gegensatz zwischen der „Kindlichkeit", „Naivetät und erhabenen Einfalt" des
Genies einerseits und der „trockene[n] Ernsthaftigkeit der Gewöhnlichen" an-
dererseits, die sich als „eingefleischte Philister" erweisen können (WWV II,
Kap. 31, Hü 452-453). - Schopenhauer seinerseits greift auf die in der Roman-
tik bereits etablierte Opposition von Künstler und Philister zurück. Insbesonde-
re las er Werke Tiecks, der als erster Romantiker den Bürger und Philister aufs
Korn genommen hatte: in den Schildbürgern (1796), im Gestiefelten Kater (1797)
und in Prinz Zerbino (1797).
402, 5-7 Jetzt schon wird der Einzelne, welcher jenen neuen Grundgedanken der
Kultur verstanden hat, vor einen Kreuzweg gestellt] Hier und im Folgenden fun-
giert eine der bekanntesten Fabeln der Antike als Subtext: die Fabel des Prodi-
kos (5. Jh. v. Chr.) von Herakles am Scheidewege. Sie wurde bereits in der
Antike und später auch in der Neuzeit intensiv rezipiert, besonders in der mo-
ralisch-pädagogischen Literatur. Xenophon erzählt die Fabel des Prodikos in
seinen Erinnerungen an Sokrates (Memorabilien II 1, 21-34), die auch zu N.s
Lektüren gehörten. Diese Fabel thematisiert die Situation des jugendlichen He-
rakles, der im Übergang zum Mannesalter zwischen zwei verschiedenen Le-
benswegen zu wählen hat: zwischen dem leichten Weg eines Lebens, das von
sinnlichen Genüssen und von Annehmlichkeiten aller Art bestimmt ist (volup-
tas), und dem schweren Weg einer Existenz, die sich dem Postulat der virtus
verpflichtet fühlt und von Arbeit, Leistung und Verantwortung für die Mensch-
heit geprägt ist (vgl. dazu Jochen Schmidt 2008, Bd. 1, 295-341).
N. transformiert zwar den „Scheideweg" in einen „Kreuzweg", übernimmt
aber ansonsten genau das Schema, auf dem die Fabel des Prodikos basiert:
Der Weg der Genüsse und Annehmlichkeiten, für den sich der „ungeheure
Schwarm" der „Wandrer" entscheidet (402, 22-23), ist bequem, jener hingegen,
der von dem „Einzelne[n]" (402, 6) bzw. von der „kleineren Schaar" (402, 29)
der „Widerspänstigen und Einsamen" (402, 26-27) gewählt wird, erweist sich
als schwierig. Im vorliegenden Kontext adaptiert N. auch die Dramaturgie der
Prodikos-Fabel. Die Rolle der voluptas überträgt er auf die Bequemlichkeiten
der „modischen ,Kultur'" (403, 10-11) und auf die konventionelle Orientierung
am „Zeitgeist" (403, 14). Dabei lässt er die „verführerischen Stimmen jener mo-
dischen ,Kultur'" (403, 10-11) sogar in direkter Rede sprechen: „Folgt mir [...]"
(403, 14-24).