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Neymeyr, Barbara; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Mitarb.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 1,4): Kommentar zu Nietzsches "Unzeitgemässen Betrachtungen": III. Schopenhauer als Erzieher, IV. Richard Wagner in Bayreuth — Berlin, Boston: de Gruyter, 2020

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https://doi.org/10.11588/diglit.69928#0272
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Stellenkommentar UB III SE 7, KSA 1, S. 406-407 245

zierte Gwinner dann zusätzlich noch eine erheblich erweiterte Version dieser
Biographie unter dem Titel Schopenhauer's Leben (1878).
407, 7-8 die freien Geister und die tief an unsrer Zeit Leidenden mit Schopen-
hauer bekannt zu machen] Diese Intention N.s erklärt sich daraus, dass er das
Hauptanliegen „diese[r] Einsamen und Freien im Geiste" in ihrem absoluten
Anspruch auf „Wahrheit und Ehrlichkeit" sieht (354, 13-15). Und in einem
nachgelassenen Notat von 1875 erblickt er „die Aufgabe der Zukunft" in der
„Verbindung eines grossen Centrums von Menschen zur Erzeugung von besse-
ren Menschen", die sich von einengenden Konventionen „frei" zu machen
vermögen (NL 1875, 3 [75], KSA 8, 36). Im vorliegenden Textzusammenhang
verbindet N. „die freien Geister" zugleich mit dem seit UB I DS für sein Den-
ken konstitutiven Ideal der ,Unzeitgemäßheit'. Und nur wenige Jahre nach
UB III SE charakterisiert er sein Werk Menschliches, Allzumenschliches sogar im
Untertitel programmatisch als Ein Buch für freie Geister (KSA 2, 9), um es dann
Voltaire, einem Freigeist par excellence, zum 100. Todestag am 30. Mai 1878
zu widmen (KSA 2, 10). Zum „geistigen Nomadenthum" des Freigeistes vgl.
KSA 2, 469, 7-12. Zur Freigeist-Thematik bei N. vgl. Campioni 1976, 83-112 und
Gerhardt 2011, zum kulturhistorischen Horizont vgl. NK 296, 30-34.
Im Rahmen von ,unzeitgemäßen', kritisch auf die Depravationen der Epo-
che fokussierten Kulturdiagnosen antizipiert N. in UB III SE also bereits den
Typus des ,freien Geistes', der in seinem Denken nach der Publikation der vier
Unzeitgemässen Betrachtungen größere Bedeutung erlangt, aber schon seit
1876 in N.s Notaten präsent ist, vgl. z. B. KSA 8, 289-295. Da der Freigeist nach
N.s Vorstellung von einem entschiedenen Willen angetrieben ist, sich von re-
striktiven Traditionen und Werten loszusagen, repräsentiert er auch die für ihn
seit der mittleren Schaffensperiode charakteristische Tendenz zur Aufklärung
(vgl. Neymeyr 2012c, 73-98). - Wie sehr der intellektuelle Anspruch von Frei-
geistern, Denkkonventionen zu suspendieren, sich über Beschränkungen tradi-
tioneller Normen hinwegzusetzen und dadurch Autonomie zu erringen, auch
N.s eigenem Selbstverständnis entsprach, dokumentiert ein Brief, den er am
22. September 1876 verfasste, also zwei Jahre nach der Publikation von
UB III SE. In diesem Brief gibt N. der Adressatin Louise Ott mit Bezug auf sich
selbst zu bedenken, „an was für einen Freigeist Sie da gerathen sind! An
einen Menschen, der nichts mehr wünscht als täglich irgend einen beruhi-
genden Glauben zu verlieren, der in dieser täglich grösseren Befreiung des
Geistes sein Glück sucht und findet. Vielleicht dass ich sogar noch mehr Frei-
geist sein will als ich es sein kann!" (KSB 5, Nr. 552, S. 185-186).
Von N.s Aussageintention in der vorliegenden Textpassage von UB III SE,
in der er „die freien Geister" in besondere Affinität zu Schopenhauer bringt,
unterscheidet sich ein vier Jahre später entstandenes Notat von 1878 allerdings
 
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