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Neymeyr, Barbara; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Contr.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 1,4): Kommentar zu Nietzsches "Unzeitgemässen Betrachtungen": III. Schopenhauer als Erzieher, IV. Richard Wagner in Bayreuth — Berlin, Boston: de Gruyter, 2020

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https://doi.org/10.11588/diglit.69928#0276
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Stellenkommentar UB III SE 7, KSA 1, S. 407-408 249

ein Jahrhundert früher zu kommen als er verstanden werden kann .." (KSB 3,
Nr. 60, S. 98).
407, 32 - 408, 1 Die Schönheit der antiken Gefässe, sagt Schopenhauer, ent-
springt daraus, dass sie auf eine so naive Art ausdrücken, was sie zu sein und
zu leisten bestimmt sind] Mit dieser These über die naturhafte Zweckmäßigkeit
antiker Gegenstände schließt N. an eine Partie aus Schopenhauers Parerga und
Paralipomena II an. Hier bringt Schopenhauer im 19. Kapitel „Zur Metaphysik
des Schönen und Aesthetik" die „antike Baukunst" mit ihren zweckmäßigen
Proportionen in einen Kontrast zur „gothischen Baukunst" mit ihren „vielen
zwecklosen Zierrathen und Beiwerken", um dann folgendermaßen fortzufah-
ren: „Das Selbe gilt von den antiken Gefäßen, deren Schönheit daraus ent-
springt, daß sie auf so naive Art ausdrücken, was sie zu seyn und zu leisten
bestimmt sind; und eben so von allem übrigen Geräthe der Alten: man fühlt
dabei, daß wenn die Natur Vasen, Amphoren, Lampen, Tische, Stühle, Helme,
Schilde, Panzer u. s. w. hervorbrächte, sie so aussehn würden" (PP II, Kap. 19,
§ 214, Hü 455). - Anschließend formuliert Schopenhauer ein radikales Verdikt
über die Produkte „der jetzigen Zeit, welche dadurch, daß sie den bereits ein-
geführten Stil des Alterthums gegen den niederträchtigen Rokokostil ver-
tauschte, ihren erbärmlichen Geist an den Tag gelegt und sich auf der Stirn
gebrandmarkt hat, für alle Zukunft. Denn keineswegs ist so etwas Kleinigkeit:
sondern es ist der Stämpel des Geistes dieser Zeit. Den Beleg dazu giebt die
Litteratur derselben, giebt die Verhunzung der deutschen Sprache durch un-
wissende Tintenklexer, welche, in frecher Willkür, mit ihr umgehn, wie Vanda-
len mit Kunstwerken, und es ungestraft dürfen" (PP II, Kap. 19, § 214, Hü 455).
N. übernimmt den polarisierenden Gestus von Schopenhauers Polemik ge-
gen die vermeintlichen Depravationen der eigenen Epoche, indem er - wie
Schopenhauer - ebenfalls von einem spezifischen Beispiel ausgeht und dann
generalisierende Negativurteile formuliert, die über den exemplarischen Fall
weit hinausreichen. So erklärt N. direkt im Anschluss an das Schopenhauer-
Zitat: „Umgekehrt: wer jetzt zusieht, wie fast Jedermann mit Kunst, mit Staat,
Religion, Bildung hantiert [...] der findet die Menschen in einer gewissen barba-
rischen Willkürlichkeit und Uebertriebenheit der Ausdrücke, und dem werden-
den Genius steht gerade dies am meisten entgegen, dass so wunderliche Begrif-
fe und so grillenhafte Bedürfnisse zu seiner Zeit im Schwange gehen" (408, 4-
11). Die Strategie der Generalisierung im Rahmen einer radikalen Kulturkritik
treibt N. hier allerdings noch weiter als Schopenhauer: Indem er auf „Staat,
Religion, Bildung" Bezug nimmt, transzendiert er die Sphäre des Ästhetischen
und vergrößert das Zielfeld seiner Zeitkritik dadurch beträchtlich.
408, 23-25 so trat in seiner eiteln und schöngeisterischen Mutter jene Verschro-
benheit der Zeit ihm auf eine fürchterliche Weise nahe] N.s kritische Bemerkung
 
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