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Neymeyr, Barbara; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Mitarb.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 1,4): Kommentar zu Nietzsches "Unzeitgemässen Betrachtungen": III. Schopenhauer als Erzieher, IV. Richard Wagner in Bayreuth — Berlin, Boston: de Gruyter, 2020

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https://doi.org/10.11588/diglit.69928#0284
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Stellenkommentar UB III SE 7, KSA 1, S. 409-410 257

einerseits und den jeweils auf kausale Relationen fixierten Einzelwissenschaf-
ten andererseits (vgl. WWV I, § 36, Hü 217).
409, 30-33 denn selbst Kant vermochte es nicht, sondern blieb bis zum Ende
trotz dem angebornen Drange seines Genius in einem gleichsam verpuppten Zu-
stande.] Diese radikale These, mit der N. so weit geht, Kant den Status eines
,echten' Philosophen abzusprechen, unterscheidet sich fundamental von der
Einschätzung Schopenhauers, der Kant den „größten Fortschritt" zuschreibt,
„den jemals die Philosophie gemacht" hat (PP I, Hü 182), und durch ihn eine
„Weltepoche in der Philosophie" inauguriert sieht (PP I, Hü 191). - Im vorlie-
genden Kontext veranschaulicht N. die Konstellation durch einen biologischen
Vergleich: Seiner Ansicht zufolge blieb Kant gewissermaßen im Raupenstadi-
um seiner Entwicklung stecken, ohne den Übergang zur Schmetterlingsexis-
tenz zu vollziehen, die hier als Metapher für eine geistig freie Existenz fungiert.
In anderen Textpartien unterstellt N. Kant Willfährigkeit gegenüber den staatli-
chen Machtinstanzen. Seine Kritik am Verhalten Kants formuliert N. zuvor
schon in 351, 6-10, dann aber vor allem in 414, 15-19. Dass N. hier ein Fehlur-
teil unterläuft, zeigen die Stellenkommentare dazu. - In der Reinschrift des
Druckmanuskripts findet sich nicht das obige Naturbild, sondern die folgende
Textversion: „ein mit Philosophie sich beschäftigender Gelehrter" (KSA 14, 79).
Hier ist noch zurückhaltender formuliert, was N. im Druck dann entschiedener
zum Ausdruck bringt.
In der Grundtendenz schließt N. an Schopenhauers Polemik gegen die „Ka-
thederphilosophen" an (PP I, Hü 149), die vor allem dessen Schrift Ueber die
Universitäts-Philosophie, aber passagenweise auch Die Welt als Wille und Vor-
stellung bestimmt. - Während Schopenhauer Kant als Ausnahme versteht und
ihn als einen von „den seltensten Fällen" charakterisiert, in denen „ein wirkli-
cher Philosoph zugleich ein Docent der Philosophie gewesen" ist (PP I, Hü 151),
betrachtet N. gerade Kant als exemplarischen Repräsentanten der durch die
universitären Zwänge bedingten Depravationen in Sozialverhalten und Lehrtä-
tigkeit. Zur Problematik von N.s nicht gerechtfertigtem Verdikt über Kant vgl.
NK 351, 6-7 und NK 414, 15-19.
410, 3-5 Wer zwischen sich und die Dinge Begriffe, Meinungen, Vergangenhei-
ten, Bücher treten lässt, wer also, im weitesten Sinne, zur Historie geboren ist]
N. orientiert sich hier sowohl an Schopenhauers Ideal des ,Selbstdenkers' als
auch an seinen Vorbehalten gegenüber der Geschichte, die - im Gegensatz zur
Philosophie - einen unmittelbaren Zugang zur Essenz der Welt und des Lebens
verstelle (WWV II, Kap. 38, Hü 563-570). Schopenhauer betont in seiner Schrift
Ueber die Universitäts-Philosophie, „das Lesen der selbsteigenen Werke wirkli-
cher Philosophen" habe „einen wohlthätigen und fördernden Einfluß auf den
 
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