258 Schopenhauer als Erzieher
Geist, indem es ihn in unmittelbare Gemeinschaft mit so einem selbstdenken-
den und überlegenen Kopfe setzt, statt daß bei jenen Geschichten der Philoso-
phie er immer nur die Bewegung erhält, die ihm der hölzerne Gedankengang
so eines Alltagskopfs ertheilen kann" (PP I, Hü 208). - In einer früheren Partie
von UB III SE hebt N. im Unterschied zu seinem Lehrer Schopenhauer aller-
dings eine wesentliche Verbindung zwischen historischer und philosophischer
Erkenntnis hervor: „Wenn die Beschäftigung mit Geschichte vergangener oder
fremder Völker werthvoll ist, so ist sie es am meisten für den Philosophen, der
ein gerechtes Urtheil über das gesammte Menschenloos abgeben will" (361, 2-5).
410, 8-9 er sich selbst als Abbild und Abbreviatur der ganzen Welt dient] Indem
N. den Philosophen auf diese Weise als Spiegel und Konzentrat der Welt be-
schreibt, greift er auf Schopenhauers Philosophie-Begriff zurück. In der Welt
als Wille und Vorstellung I grenzt Schopenhauer die „Philosophie" von al-
len „andern Wissenschaften" insofern ab, als „sie gar nichts als bekannt vo-
raussetzt, sondern alles ihr in gleichem Maße fremd und ein Problem ist [...]"
(WWV I, § 15, Hü 97). Und im Kontext dieser Aussage betont er: „Die Philoso-
phie wird demnach eine Summe sehr allgemeiner Urtheile seyn, deren Er-
kenntnißgrund unmittelbar die Welt selbst in ihrer Gesammtheit ist, ohne ir-
gend etwas auszuschließen: also Alles, was im menschlichen Bewußtseyn sich
vorfindet: sie wird seyn eine vollständige Wiederholung, gleich-
sam Abspiegelung der Welt in abstrakten Begriffen, welche al-
lein möglich ist durch Vereinigung des wesentlich Identischen in einen Be-
griff und Aussonderung des Verschiedenen zu einem andern" (WWV I, § 15,
Hü 98-99).
410, 12-16 Schopenhauer dagegen hatte das unbeschreibliche Glück, nicht nur
in sich den Genius aus der Nähe zu sehen, sondern auch äusser sich, in Goethe:
durch diese doppelte Spiegelung war er über alle gelehrtenhaften Ziele und Kul-
turen von Grunde aus belehrt und weise geworden.] Dieser Gedankengang kon-
kretisiert am Beispiel Schopenhauers eine Differenz, die N. kurz zuvor bereits
generell und apodiktisch zum Ausdruck gebracht hat: „Ein Gelehrter kann nie
ein Philosoph werden" (409, 29-30). Vgl. NK 409, 29-30. Schopenhauer selbst
schreibt über den „Genius": „er wird von den Vorgängern und ihren Werken
zwar erzogen und gebildet; aber befruchtet wird er nur vom Leben und der
Welt selbst unmittelbar, durch den Eindruck des Anschaulichen: daher scha-
det auch die höchste Bildung doch nie seiner Originalität" (WWV I, § 49,
Hü 278). Vgl. den Kommentar zur „Erzeugung des Genius" (386, 21-22).
410, 20-21 in der gelehrten oder hypokritischen Manier des modernen Men-
schen] Das veraltete Wort ,hypokritisch' bedeutet: heuchlerisch, scheinheilig. -
Vor dem Hintergrund der längst zum Topos gewordenen Opposition zwischen
Geist, indem es ihn in unmittelbare Gemeinschaft mit so einem selbstdenken-
den und überlegenen Kopfe setzt, statt daß bei jenen Geschichten der Philoso-
phie er immer nur die Bewegung erhält, die ihm der hölzerne Gedankengang
so eines Alltagskopfs ertheilen kann" (PP I, Hü 208). - In einer früheren Partie
von UB III SE hebt N. im Unterschied zu seinem Lehrer Schopenhauer aller-
dings eine wesentliche Verbindung zwischen historischer und philosophischer
Erkenntnis hervor: „Wenn die Beschäftigung mit Geschichte vergangener oder
fremder Völker werthvoll ist, so ist sie es am meisten für den Philosophen, der
ein gerechtes Urtheil über das gesammte Menschenloos abgeben will" (361, 2-5).
410, 8-9 er sich selbst als Abbild und Abbreviatur der ganzen Welt dient] Indem
N. den Philosophen auf diese Weise als Spiegel und Konzentrat der Welt be-
schreibt, greift er auf Schopenhauers Philosophie-Begriff zurück. In der Welt
als Wille und Vorstellung I grenzt Schopenhauer die „Philosophie" von al-
len „andern Wissenschaften" insofern ab, als „sie gar nichts als bekannt vo-
raussetzt, sondern alles ihr in gleichem Maße fremd und ein Problem ist [...]"
(WWV I, § 15, Hü 97). Und im Kontext dieser Aussage betont er: „Die Philoso-
phie wird demnach eine Summe sehr allgemeiner Urtheile seyn, deren Er-
kenntnißgrund unmittelbar die Welt selbst in ihrer Gesammtheit ist, ohne ir-
gend etwas auszuschließen: also Alles, was im menschlichen Bewußtseyn sich
vorfindet: sie wird seyn eine vollständige Wiederholung, gleich-
sam Abspiegelung der Welt in abstrakten Begriffen, welche al-
lein möglich ist durch Vereinigung des wesentlich Identischen in einen Be-
griff und Aussonderung des Verschiedenen zu einem andern" (WWV I, § 15,
Hü 98-99).
410, 12-16 Schopenhauer dagegen hatte das unbeschreibliche Glück, nicht nur
in sich den Genius aus der Nähe zu sehen, sondern auch äusser sich, in Goethe:
durch diese doppelte Spiegelung war er über alle gelehrtenhaften Ziele und Kul-
turen von Grunde aus belehrt und weise geworden.] Dieser Gedankengang kon-
kretisiert am Beispiel Schopenhauers eine Differenz, die N. kurz zuvor bereits
generell und apodiktisch zum Ausdruck gebracht hat: „Ein Gelehrter kann nie
ein Philosoph werden" (409, 29-30). Vgl. NK 409, 29-30. Schopenhauer selbst
schreibt über den „Genius": „er wird von den Vorgängern und ihren Werken
zwar erzogen und gebildet; aber befruchtet wird er nur vom Leben und der
Welt selbst unmittelbar, durch den Eindruck des Anschaulichen: daher scha-
det auch die höchste Bildung doch nie seiner Originalität" (WWV I, § 49,
Hü 278). Vgl. den Kommentar zur „Erzeugung des Genius" (386, 21-22).
410, 20-21 in der gelehrten oder hypokritischen Manier des modernen Men-
schen] Das veraltete Wort ,hypokritisch' bedeutet: heuchlerisch, scheinheilig. -
Vor dem Hintergrund der längst zum Topos gewordenen Opposition zwischen