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Neymeyr, Barbara; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Mitarb.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 1,4): Kommentar zu Nietzsches "Unzeitgemässen Betrachtungen": III. Schopenhauer als Erzieher, IV. Richard Wagner in Bayreuth — Berlin, Boston: de Gruyter, 2020

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https://doi.org/10.11588/diglit.69928#0286
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Stellenkommentar UB III SE 7, KSA 1, S. 410 259

dem ,Genius' und dem bloßen ,Gelehrten' kontrastiert N. Schopenhauers philo-
sophische Ausrichtung auf die Essenz des Lebens mit dem heuchlerischen,
scheinheiligen Habitus seiner Zeitgenossen. Dass hier zugleich die Kritik am
Historismus relevant ist, zeigt der von N. zuvor betonte Gegensatz zwischen
dem ,wirklichen Menschen' und dem ,Gelehrten', der „zwischen sich und die
Dinge Begriffe, Meinungen, Vergangenheiten, Bücher treten lässt", der „also,
im weitesten Sinne, zur Historie geboren ist" und daher „die Dinge nie zum
ersten Male sehen" kann (410, 1-5). Schopenhauer betont die Differenz zwi-
schen dem ,Genius' und dem ,Gelehrten', indem er erklärt: „Die Tugend wird
nicht gelehrt, so wenig wie der Genius" (WWV I, § 53, Hü 320).
410, 22-25 eine furchtbare überweltliche Scene des Gerichts, in der alles Leben,
auch das höchste und vollendete, gewogen und zu leicht befunden wurde: er
hatte den Heiligen als Richter des Daseins gesehn] Mit der Formulierung „gewo-
gen und zu leicht befunden" spielt N. auf das Alte Testament an (Buch Daniel
5, 27). Die Vorstellung eines „Richter[s]" sowie eines „Gerichts", das in Analo-
gie zum Jüngsten Gericht einen absoluten und eschatologisch perspektivierten
Anspruch verkörpert, ist für N.s Frühwerk charakteristisch. Vgl. auch eine spä-
tere Textpartie in UB III SE (425, 7-17). Schon in der Geburt der Tragödie prog-
nostiziert er: „alles, was wir jetzt Cultur, Bildung, Civilisation nennen, wird
einmal vor dem untrüglichen Richter Dionysus erscheinen müssen" (KSA 1,
128, 5-7). In UB II HL entfaltet N. eschatologische Vorstellungen von „Richter"
und „Gericht" im Zusammenhang mit seinem Konzept einer ,kritischen Histo-
rie' im Dienste des Lebens (vgl. KSA 1, 269, 8 - 270, 30 sowie KSA 1, 286, 8 -
287, 28). In UB IV WB ist die Rede vom „kommende[n] Gerichtsverfahren, mit
dem unsere Zeit heimgesucht wird" (KSA 1, 463, 8-9), und bereits an früherer
Stelle heißt es dort: „wir wollen die Untersuchung darüber den künftigen Rich-
tern zuschieben, welche die modernen Menschen einmal durch ihr Sieb raiten
werden" (KSA 1, 462, 21-23). Den Subtext des letzten Zitats bildet ein biblisches
Gleichnis des Jüngsten Gerichts (Matthäus 3, 12): „Und er hat seine Wurfschau-
fel in der Hand: Er wird seine Tenne fegen und den Weizen in seine Scheuern
sammeln; aber die Spreu wird er verbrennen mit ewigem Feuer". Diese bibli-
sche Vorstellung vom reinigenden Akt des Verbrennens verbindet N. in der
Geburt der Tragödie antikisierend mit einer Anspielung auf die Feuer-Lehre
seines erklärten Lieblingsphilosophen Heraklit, indem er den „läuternde[n]
Feuergeist" hervorhebt (KSA 1, 128, 3) und damit zugleich auch an stoische
Konzepte von einer kathartischen Ekpyrosis anknüpft. Heraklit betrachtet das
Feuer als Urprinzip und stellt es sich in einem zyklischen Wechsel von Auf-
flammen und Verlöschen vor, der jeweils das Entstehen und Vergehen des Kos-
mos zur Folge hat. Im 30. Fragment (Diels/Kranz) heißt es: „Koopov tovöe, töv
avTov dndvTwv, oute ti§ Oewv oute dvOpwnwv enoirpEv, aNK qv dei Kai eotlv
 
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