276 Schopenhauer als Erzieher
greifen. Er vertritt ein materialistisches Konzept, indem er betont, die Natur
folge ausschließlich der ihr eigenen Kausalität, d. h. den Gesetzen der Materie.
Außer dem leeren Raum gebe es nur Materie. Alles Werden und Vergehen kom-
me durch den permanenten Prozess ihrer Umschichtung zustande. Auch die
Seele bestehe aus Materie, die sich im Tod ebenso auflöse wie der Körper. -
Wenn N. die Philosophen seiner Gegenwart als „meistens fromme, schüchterne
und unklare Leute" bezeichnet, die nicht „tapfer" und „ingrimmig" sind im
Hinblick auf „den Druck, der auf den Menschen gelegen hat" (420, 5-7), dann
bezieht er sich damit auf Lukrez, der vor allem die traditionelle Religion be-
kämpft und - wie Epikur - die Menschen von deren „Druck" befreien will,
insbesondere von der Dämonen-Furcht. Wie die Wirkungsgeschichte bezeugt,
stießen diese Lehren bei den Vertretern der christlichen Religion seit den Kir-
chenvätern auf erbitterte Ablehnung.
420, 7-9 Auch das logische Denken kann man bei ihnen nicht mehr lernen, und
die sonst üblichen Disputirübungen haben sie in natürlicher Schätzung ihrer Kräf-
te eingestellt.] N. vergleicht die universitären Lehrveranstaltungen seiner Zeit
mit der akademischen Lehre im Mittelalter: Damals fanden außer den Vorle-
sungen (lectiones), in denen Texte anerkannter Autoritäten erklärt wurden, re-
gelmäßig kontroverse Disputationen zu verschiedenen Themen statt, durch die
sich auch eine breitere Öffentlichkeit zur Teilnahme aufgefordert sah. In der
Abschaffung der Disputationen im modernen universitären Lehrbetrieb seiner
Zeit erblickt N. ein für den Verfall der zeitgenössischen Wissenschaftskultur
symptomatisches Defizit. Im Rahmen seiner Polemik gegen den zeitgenössi-
schen Universitätsbetrieb kritisiert N., dass „das logische Denken" an den
Hochschulen nicht mehr gelernt werden könne und auch die einst üblichen
Trainingseinheiten in der Dialektik, die „Disputirübungen", inzwischen entfal-
len seien. Dabei stellt er die radikale Abwertung von ,Logik' und ,Dialektik'
hintan, die er zuvor in der Geburt der Tragödie vollzogen hatte. Vgl. dazu GT 13
und 14 sowie NK 1/1, 289-296 zu KSA 1, 94, 21 - 95, 29 und NK 1/1, 304-307 zu
KSA 1, 100, 29 - 101, 1.
420, 14-29 „Wer ist nicht fast im Voraus überzeugt, dass ihre Prämissen eine
wunderbare Mischung von Wahrheit und Irrthum enthalten [...]. Aber die Welt
kümmert sich nicht um diese Abstractionen, und das ist kein Wunder, da diese
sich unter einander widersprechen".] In diesem Zitat rekurriert N. auf Walter
Bagehots Werk Der Ursprung der Nationen. Betrachtungen über den Einfluß der
natürlichen Zuchtwahl und der Vererbung auf die Bildung politischer Gemeinwe-
sen (1874, 216-217). Mit Bagehot kritisiert N. die deduktiv verfahrenden System-
philosophen, die einen Anspruch auf universelle Weltdeutung erheben. Eine
derartige Prätention sieht N. sowohl durch den spekulativen Gestus als auch
greifen. Er vertritt ein materialistisches Konzept, indem er betont, die Natur
folge ausschließlich der ihr eigenen Kausalität, d. h. den Gesetzen der Materie.
Außer dem leeren Raum gebe es nur Materie. Alles Werden und Vergehen kom-
me durch den permanenten Prozess ihrer Umschichtung zustande. Auch die
Seele bestehe aus Materie, die sich im Tod ebenso auflöse wie der Körper. -
Wenn N. die Philosophen seiner Gegenwart als „meistens fromme, schüchterne
und unklare Leute" bezeichnet, die nicht „tapfer" und „ingrimmig" sind im
Hinblick auf „den Druck, der auf den Menschen gelegen hat" (420, 5-7), dann
bezieht er sich damit auf Lukrez, der vor allem die traditionelle Religion be-
kämpft und - wie Epikur - die Menschen von deren „Druck" befreien will,
insbesondere von der Dämonen-Furcht. Wie die Wirkungsgeschichte bezeugt,
stießen diese Lehren bei den Vertretern der christlichen Religion seit den Kir-
chenvätern auf erbitterte Ablehnung.
420, 7-9 Auch das logische Denken kann man bei ihnen nicht mehr lernen, und
die sonst üblichen Disputirübungen haben sie in natürlicher Schätzung ihrer Kräf-
te eingestellt.] N. vergleicht die universitären Lehrveranstaltungen seiner Zeit
mit der akademischen Lehre im Mittelalter: Damals fanden außer den Vorle-
sungen (lectiones), in denen Texte anerkannter Autoritäten erklärt wurden, re-
gelmäßig kontroverse Disputationen zu verschiedenen Themen statt, durch die
sich auch eine breitere Öffentlichkeit zur Teilnahme aufgefordert sah. In der
Abschaffung der Disputationen im modernen universitären Lehrbetrieb seiner
Zeit erblickt N. ein für den Verfall der zeitgenössischen Wissenschaftskultur
symptomatisches Defizit. Im Rahmen seiner Polemik gegen den zeitgenössi-
schen Universitätsbetrieb kritisiert N., dass „das logische Denken" an den
Hochschulen nicht mehr gelernt werden könne und auch die einst üblichen
Trainingseinheiten in der Dialektik, die „Disputirübungen", inzwischen entfal-
len seien. Dabei stellt er die radikale Abwertung von ,Logik' und ,Dialektik'
hintan, die er zuvor in der Geburt der Tragödie vollzogen hatte. Vgl. dazu GT 13
und 14 sowie NK 1/1, 289-296 zu KSA 1, 94, 21 - 95, 29 und NK 1/1, 304-307 zu
KSA 1, 100, 29 - 101, 1.
420, 14-29 „Wer ist nicht fast im Voraus überzeugt, dass ihre Prämissen eine
wunderbare Mischung von Wahrheit und Irrthum enthalten [...]. Aber die Welt
kümmert sich nicht um diese Abstractionen, und das ist kein Wunder, da diese
sich unter einander widersprechen".] In diesem Zitat rekurriert N. auf Walter
Bagehots Werk Der Ursprung der Nationen. Betrachtungen über den Einfluß der
natürlichen Zuchtwahl und der Vererbung auf die Bildung politischer Gemeinwe-
sen (1874, 216-217). Mit Bagehot kritisiert N. die deduktiv verfahrenden System-
philosophen, die einen Anspruch auf universelle Weltdeutung erheben. Eine
derartige Prätention sieht N. sowohl durch den spekulativen Gestus als auch