Überblickskommentar, Kapitel IV.1: Entstehung 291
satz nicht verwirklichen, da sich immer mehr Schwierigkeiten ergeben, die
auch konzeptioneller Natur sind. In einem Brief an seine Schwester seufzt N.
am 19. April 1875: „Dies bringt mich auf meine Nr. 4; an der arbeite ich wieder,
danke es mir der Teufel. [...] Arbeit, nichts als Arbeit!" (KSB 5, Nr. 440, S. 43).
Und am 8. Mai 1875 schreibt er dem Freund Carl von Gersdorff voll Skepsis:
„Mit der vierten Unzeitgem. steht es noch schlecht: zwar habe ich ungefähr 40
Seiten mehr von solcherlei Notizen, wie du sie zusammen geschrieben hast.
Aber Fluss und Guss und Muth fehlt noch fürs Ganze" (KSB 5, Nr. 443, S. 48).
In einem Nachlass-Notat aus dem Sommer 1875 betrachtet N. Wagners
Schaffen als avantgardistisch und seine eigene Schrift UB IV WB als unzeitge-
mäß: „Wagner's Kunst gehört nicht zur jetzigen Kunst: er ist weit voraus
oder darüber. Man soll seine Existenz nicht unserm Zeitalter zum Verdienst
anrechnen, zumal es alles gethan hat um seine Existenz zu verhindern. [...]
Meine Betrachtung Wagner's bleibt als ,unzeitgemäße' gerechtfertigt. Denn alle
sonstige Kunst und Wissenschaft, die Musiker und Musikgelehrten dazu, ha-
ben ihm den Weg verlegen wollen" (NL 1875, 11 [19], KSA 8, 205). Schon fünf
Jahre zuvor hatte N. im Februar 1870 in einem Brief an Paul Deussen Wagner
als „den wahren Geistesbruder Schopenhauers" bezeichnet: als „Genius, der
dasselbe furchtbar erhabene Loos empfangen hat, ein Jahrhundert früher zu
kommen als er verstanden werden kann" (KSB 3, Nr. 60, S. 98). - Bis Ende
September/Anfang Oktober 1875 verfasst N. die ersten acht von insgesamt elf
Kapiteln. In der Folgezeit wächst allerdings seine Unzufriedenheit mit
UB IV WB. Sogar als sich die Schrift bereits kurz vor der Fertigstellung befin-
det, bezweifelt er ihre Qualität. Das zeigt ein Brief vom 7. Oktober 1875 an den
Freund Erwin Rohde, in dem N. auch auf sein komplizierter gewordenes Ver-
hältnis zu Wagner anspielt und zugleich erklärt: „,Richard W. in Bayreuth'
wird nicht gedruckt" (KSB 5, Nr. 490, S. 119).
Schon am 12. Juli 1875 teilt N. Gustav Krug mit, er sei „seit Wochen in der
Gewalt eines desperaten Magen- und Kopfleidens" (KSB 5, Nr. 464, S. 73). Die
gesundheitlichen Probleme verschlimmern sich von da an und reichen weit ins
Jahr 1876 hinein. Von einer katastrophalen Verschlechterung seines Gesund-
heitszustandes berichtet N. am 18. Januar 1876 in einem Brief an Carl von Gers-
dorff: „Es macht mir Mühe zu schreiben, ich will drum kurz sein. Liebster
Freund, ich habe das schlimmste schmerzhafteste und unheimlichste Weih-
nachten hinter mir, das ich erlebt habe! Am ersten Weihnachtstage gab es,
nach manchen immer häufiger kommenden Ankündigungen, einen förmlichen
Zusammenbruch, ich durfte nicht mehr zweifeln, dass ich an einem ernsthaf-
ten Gehirnleiden mich zu quälen habe, und dass Magen und Augen nur durch
diese Centralwirkung so zu leiden hatten. Mein Vater starb 36 Jahr an Gehirn-
entzündung, es ist möglich, dass es bei mir noch schneller geht. [...] Ach Bay-
satz nicht verwirklichen, da sich immer mehr Schwierigkeiten ergeben, die
auch konzeptioneller Natur sind. In einem Brief an seine Schwester seufzt N.
am 19. April 1875: „Dies bringt mich auf meine Nr. 4; an der arbeite ich wieder,
danke es mir der Teufel. [...] Arbeit, nichts als Arbeit!" (KSB 5, Nr. 440, S. 43).
Und am 8. Mai 1875 schreibt er dem Freund Carl von Gersdorff voll Skepsis:
„Mit der vierten Unzeitgem. steht es noch schlecht: zwar habe ich ungefähr 40
Seiten mehr von solcherlei Notizen, wie du sie zusammen geschrieben hast.
Aber Fluss und Guss und Muth fehlt noch fürs Ganze" (KSB 5, Nr. 443, S. 48).
In einem Nachlass-Notat aus dem Sommer 1875 betrachtet N. Wagners
Schaffen als avantgardistisch und seine eigene Schrift UB IV WB als unzeitge-
mäß: „Wagner's Kunst gehört nicht zur jetzigen Kunst: er ist weit voraus
oder darüber. Man soll seine Existenz nicht unserm Zeitalter zum Verdienst
anrechnen, zumal es alles gethan hat um seine Existenz zu verhindern. [...]
Meine Betrachtung Wagner's bleibt als ,unzeitgemäße' gerechtfertigt. Denn alle
sonstige Kunst und Wissenschaft, die Musiker und Musikgelehrten dazu, ha-
ben ihm den Weg verlegen wollen" (NL 1875, 11 [19], KSA 8, 205). Schon fünf
Jahre zuvor hatte N. im Februar 1870 in einem Brief an Paul Deussen Wagner
als „den wahren Geistesbruder Schopenhauers" bezeichnet: als „Genius, der
dasselbe furchtbar erhabene Loos empfangen hat, ein Jahrhundert früher zu
kommen als er verstanden werden kann" (KSB 3, Nr. 60, S. 98). - Bis Ende
September/Anfang Oktober 1875 verfasst N. die ersten acht von insgesamt elf
Kapiteln. In der Folgezeit wächst allerdings seine Unzufriedenheit mit
UB IV WB. Sogar als sich die Schrift bereits kurz vor der Fertigstellung befin-
det, bezweifelt er ihre Qualität. Das zeigt ein Brief vom 7. Oktober 1875 an den
Freund Erwin Rohde, in dem N. auch auf sein komplizierter gewordenes Ver-
hältnis zu Wagner anspielt und zugleich erklärt: „,Richard W. in Bayreuth'
wird nicht gedruckt" (KSB 5, Nr. 490, S. 119).
Schon am 12. Juli 1875 teilt N. Gustav Krug mit, er sei „seit Wochen in der
Gewalt eines desperaten Magen- und Kopfleidens" (KSB 5, Nr. 464, S. 73). Die
gesundheitlichen Probleme verschlimmern sich von da an und reichen weit ins
Jahr 1876 hinein. Von einer katastrophalen Verschlechterung seines Gesund-
heitszustandes berichtet N. am 18. Januar 1876 in einem Brief an Carl von Gers-
dorff: „Es macht mir Mühe zu schreiben, ich will drum kurz sein. Liebster
Freund, ich habe das schlimmste schmerzhafteste und unheimlichste Weih-
nachten hinter mir, das ich erlebt habe! Am ersten Weihnachtstage gab es,
nach manchen immer häufiger kommenden Ankündigungen, einen förmlichen
Zusammenbruch, ich durfte nicht mehr zweifeln, dass ich an einem ernsthaf-
ten Gehirnleiden mich zu quälen habe, und dass Magen und Augen nur durch
diese Centralwirkung so zu leiden hatten. Mein Vater starb 36 Jahr an Gehirn-
entzündung, es ist möglich, dass es bei mir noch schneller geht. [...] Ach Bay-