Überblickskommentar, Kapitel IV.3: Ambivalentes Verhältnis zu Wagner 295
IV.3 Nietzsches ambivalentes Verhältnis zu Richard Wagner
im Spiegel seiner Werke, Nachlass-Notate und Briefe
Erstmals erwähnt N. den Namen des Komponisten bereits fünfzehn Jahre vor
der Publikation von UB IV WB: In einem Brief an seine Mutter und Schwester
wünscht er sich am 5. Dezember 1861 „irgend eine Photographie eines leben-
den berühmten Mannes, z. B. Liszt oder Wagner" (KSB 1, Nr. 290, S. 192). Doch
aufgrund seiner Orientierung an einer klassizistischen Musikästhetik hatte N.
in den 1860er Jahren zunächst noch über lange Zeit Distanz zu Wagners Musik.
Zwar wurde er bereits in Schulpforta mit Wagners Kompositionen und mit sei-
ner Programmatik vertraut, aber die nachträgliche Stilisierung in Ecce homo
entspricht nicht der Wahrheit: „Alles erwogen, hätte ich meine Jugend nicht
ausgehalten ohne Wagnerische Musik. [...] Von dem Augenblick an, wo es
einen Klavierauszug des Tristan gab [...], war ich Wagnerianer" (KSA 6, 289,
20-27).
Während der Bonner Studienzeit bleibt N.s Präferenz für ,klassische' Stil-
prinzipien zunächst noch erhalten - auch unter dem Einfluss von Eduard
Hanslicks Abhandlung Vom Musikalisch-Schönen (1854). Zwar gelangt N. bei
seiner Beschäftigung mit der griechischen Tragödie, deren Ursprung er im Chor
sieht, bereits 1864 zu einer positiven Einschätzung von Wagners Reform des
Musiktheaters (vgl. Borchmeyer 2008, 16), aber seiner Musik gegenüber bleibt
er damals noch reserviert. So urteilt er in einem Brief an Carl von Gersdoff am
11. Oktober 1866 ambivalent über einen „Klavierauszug der Walküre von Rich.
Wagner": „Die großen Schönheiten und virtutes werden durch eben so große
Häßlichkeiten und Mängel aufgewogen" (KSB 2, Nr. 523, S. 174).
In den Jahren 1867 und 1868 ändern sich N.s musikalische Präferenzen
dann grundlegend. Der spätere Wagner-Enthusiasmus ist bereits am 8. Oktober
1868 in einem Brief an Erwin Rohde zu erkennen. Hier geht N. auf das Wagner-
Bild des Altphilologen und Mozart-Forschers Otto Jahn ein, dem er ein Hören
„mit halbverklebten Ohren" attestiert: „Ich gebe ihm trotzdem vielfach Recht,
insbesondre darin, daß er Wagner für den Repräsentanten eines modernen,
alle Kunstinteressen in sich aufsaugenden und verdauenden Dilettantismus
hält: aber gerade von diesem Standpunkte aus kann man nicht genug staunen,
wie bedeutend jede einzelne Kunstanlage in diesem Menschen ist, welche un-
verwüstliche Energie hier mit vielseitigen künstlerischen Talenten gepaart ist:
während die ,Bildung' [...] gewöhnlich mit mattem Blicke, schwachen Beinen
und entnervten Lenden auftritt. [...] Mir behagt an Wagner, was mir an Scho-
penhauer behagt, die ethische Luft, der faustische Duft, Kreuz, Tod und Gruft
etc." (KSB 2, Nr. 591, S. 322). - Thomas Mann sieht darin „die geistige Lebens-
luft" der Epoche (Bd. IX, 558). Was N. hier als Faszinosum beschreibt, wird er
IV.3 Nietzsches ambivalentes Verhältnis zu Richard Wagner
im Spiegel seiner Werke, Nachlass-Notate und Briefe
Erstmals erwähnt N. den Namen des Komponisten bereits fünfzehn Jahre vor
der Publikation von UB IV WB: In einem Brief an seine Mutter und Schwester
wünscht er sich am 5. Dezember 1861 „irgend eine Photographie eines leben-
den berühmten Mannes, z. B. Liszt oder Wagner" (KSB 1, Nr. 290, S. 192). Doch
aufgrund seiner Orientierung an einer klassizistischen Musikästhetik hatte N.
in den 1860er Jahren zunächst noch über lange Zeit Distanz zu Wagners Musik.
Zwar wurde er bereits in Schulpforta mit Wagners Kompositionen und mit sei-
ner Programmatik vertraut, aber die nachträgliche Stilisierung in Ecce homo
entspricht nicht der Wahrheit: „Alles erwogen, hätte ich meine Jugend nicht
ausgehalten ohne Wagnerische Musik. [...] Von dem Augenblick an, wo es
einen Klavierauszug des Tristan gab [...], war ich Wagnerianer" (KSA 6, 289,
20-27).
Während der Bonner Studienzeit bleibt N.s Präferenz für ,klassische' Stil-
prinzipien zunächst noch erhalten - auch unter dem Einfluss von Eduard
Hanslicks Abhandlung Vom Musikalisch-Schönen (1854). Zwar gelangt N. bei
seiner Beschäftigung mit der griechischen Tragödie, deren Ursprung er im Chor
sieht, bereits 1864 zu einer positiven Einschätzung von Wagners Reform des
Musiktheaters (vgl. Borchmeyer 2008, 16), aber seiner Musik gegenüber bleibt
er damals noch reserviert. So urteilt er in einem Brief an Carl von Gersdoff am
11. Oktober 1866 ambivalent über einen „Klavierauszug der Walküre von Rich.
Wagner": „Die großen Schönheiten und virtutes werden durch eben so große
Häßlichkeiten und Mängel aufgewogen" (KSB 2, Nr. 523, S. 174).
In den Jahren 1867 und 1868 ändern sich N.s musikalische Präferenzen
dann grundlegend. Der spätere Wagner-Enthusiasmus ist bereits am 8. Oktober
1868 in einem Brief an Erwin Rohde zu erkennen. Hier geht N. auf das Wagner-
Bild des Altphilologen und Mozart-Forschers Otto Jahn ein, dem er ein Hören
„mit halbverklebten Ohren" attestiert: „Ich gebe ihm trotzdem vielfach Recht,
insbesondre darin, daß er Wagner für den Repräsentanten eines modernen,
alle Kunstinteressen in sich aufsaugenden und verdauenden Dilettantismus
hält: aber gerade von diesem Standpunkte aus kann man nicht genug staunen,
wie bedeutend jede einzelne Kunstanlage in diesem Menschen ist, welche un-
verwüstliche Energie hier mit vielseitigen künstlerischen Talenten gepaart ist:
während die ,Bildung' [...] gewöhnlich mit mattem Blicke, schwachen Beinen
und entnervten Lenden auftritt. [...] Mir behagt an Wagner, was mir an Scho-
penhauer behagt, die ethische Luft, der faustische Duft, Kreuz, Tod und Gruft
etc." (KSB 2, Nr. 591, S. 322). - Thomas Mann sieht darin „die geistige Lebens-
luft" der Epoche (Bd. IX, 558). Was N. hier als Faszinosum beschreibt, wird er