Überblickskommentar, Kapitel IV.3: Ambivalentes Verhältnis zu Wagner 297
am 9. Dezember 1868 enthusiastisch: „Wagner, wie ich ihn jetzt kenne, aus
seiner Musik, seinen Dichtungen seiner Aesthetik, zum nicht geringsten Theile
aus jenem glücklichen Zusammensein mit ihm, ist die leibhaftigste Illustration
dessen, was Schopenhauer ein Genie nennt: ja die Ähnlichkeit all der einzel-
nen Züge ist in die Augen springend [...] wir könnten zusammen den kühnen,
ja schwindelnden Gang seiner umstürzenden und aufbauenden Aesthetik ge-
hen, wir könnten endlich uns von dem Gefühlsschwunge seiner Musik wegrei-
ßen lassen, von diesem Schopenhauerischen Tonmeere, dessen geheimsten
Wellenschlag ich mit empfinde, so daß mein Anhören Wagnerischer Musik
eine jubelnde Intuition, ja ein staunendes Sichselbstfinden ist" (KSB 2, Nr. 604,
S. 352-353).
In der Zeit nach der ersten Begegnung mit Richard Wagner studiert N. in-
tensiv dessen Schriften. Und in Dresden erlebt er am 21. Januar 1869 erstmals
die Aufführung einer Wagner-Oper, und zwar der Meistersinger von Nürnberg.
Am 17. Mai 1869 besucht N. den Komponisten dann zum ersten Mal in Trib-
schen und lernt dabei auch Cosima von Bülow kennen. Auf der Basis wechsel-
seitiger Sympathie setzt sich der Kontakt dann fort. So erklärt N. seinem
Freund Erwin Rohde am 29. Mai 1869: „W. ist wirklich alles, was wir von ihm
gehofft haben: ein verschwenderisch reicher und großer Geist, ein energischer
Charakter und ein bezaubernd liebenswürdiger Mensch, von dem stärksten
Wissenstriebe usw." (KSB 3, Nr. 6, S. 13).
Mit wechselseitigem Interesse tauschen Wagner und N. in der Folgezeit
auch ihre Schriften und Lektüreeindrücke über eigene und fremde Arbeiten
aus. So übermittelt N. seine Antrittsvorlesung Homer und die klassische Philolo-
gie sowie seine Vorträge Das griechische Musikdrama und Socrates und die Tra-
goedie (Borchmeyer 2008, 40-41). Für beide ist der Eindruck einer fruchtbaren
Synthese komplementärer Begabungen maßgeblich, den Richard Wagner am
12. Februar 1870 so formuliert: „Wären Sie Musiker geworden, so würden Sie
ungefähr das sein, was ich geworden wäre, wenn ich mich auf die Philologie
obstinirt hätte. Nun liegt mir aber die Philologie - als bedeutungsvolle Anla-
ge - immer in den Gliedern, ja sie dirigirt mich als ,Musiker'. Nun bleiben Sie
Philolog, um als solcher sich von der Musik dirigiren zu lassen" (KGB II 2,
Nr. 73, S. 146). - Im Hintergrund steht Wagners ambitioniertes Synthese-Pro-
jekt: „Nun zeigen Sie denn, zu was die Philologie da ist, und helfen Sie mir,
die große ,Renaissance' zu Stande bringen, in welcher Platon den Homer um-
armt, und Homer, von Platons Ideen erfüllt, nun erst recht der allergrösste
Homer wird" (KGB II 2, Nr. 73, S. 146). Auf Wagners Einschätzung dieser Kom-
plementarität von Wissenschaft und Kunst, Philologie und Musik, deren Syn-
these zum vollendeten Werk führen soll, kommt N. auch selbst zu sprechen,
wenn er Wagner am 21. Mai 1870 als den „Dirigent[en] dieser meiner Musik",
am 9. Dezember 1868 enthusiastisch: „Wagner, wie ich ihn jetzt kenne, aus
seiner Musik, seinen Dichtungen seiner Aesthetik, zum nicht geringsten Theile
aus jenem glücklichen Zusammensein mit ihm, ist die leibhaftigste Illustration
dessen, was Schopenhauer ein Genie nennt: ja die Ähnlichkeit all der einzel-
nen Züge ist in die Augen springend [...] wir könnten zusammen den kühnen,
ja schwindelnden Gang seiner umstürzenden und aufbauenden Aesthetik ge-
hen, wir könnten endlich uns von dem Gefühlsschwunge seiner Musik wegrei-
ßen lassen, von diesem Schopenhauerischen Tonmeere, dessen geheimsten
Wellenschlag ich mit empfinde, so daß mein Anhören Wagnerischer Musik
eine jubelnde Intuition, ja ein staunendes Sichselbstfinden ist" (KSB 2, Nr. 604,
S. 352-353).
In der Zeit nach der ersten Begegnung mit Richard Wagner studiert N. in-
tensiv dessen Schriften. Und in Dresden erlebt er am 21. Januar 1869 erstmals
die Aufführung einer Wagner-Oper, und zwar der Meistersinger von Nürnberg.
Am 17. Mai 1869 besucht N. den Komponisten dann zum ersten Mal in Trib-
schen und lernt dabei auch Cosima von Bülow kennen. Auf der Basis wechsel-
seitiger Sympathie setzt sich der Kontakt dann fort. So erklärt N. seinem
Freund Erwin Rohde am 29. Mai 1869: „W. ist wirklich alles, was wir von ihm
gehofft haben: ein verschwenderisch reicher und großer Geist, ein energischer
Charakter und ein bezaubernd liebenswürdiger Mensch, von dem stärksten
Wissenstriebe usw." (KSB 3, Nr. 6, S. 13).
Mit wechselseitigem Interesse tauschen Wagner und N. in der Folgezeit
auch ihre Schriften und Lektüreeindrücke über eigene und fremde Arbeiten
aus. So übermittelt N. seine Antrittsvorlesung Homer und die klassische Philolo-
gie sowie seine Vorträge Das griechische Musikdrama und Socrates und die Tra-
goedie (Borchmeyer 2008, 40-41). Für beide ist der Eindruck einer fruchtbaren
Synthese komplementärer Begabungen maßgeblich, den Richard Wagner am
12. Februar 1870 so formuliert: „Wären Sie Musiker geworden, so würden Sie
ungefähr das sein, was ich geworden wäre, wenn ich mich auf die Philologie
obstinirt hätte. Nun liegt mir aber die Philologie - als bedeutungsvolle Anla-
ge - immer in den Gliedern, ja sie dirigirt mich als ,Musiker'. Nun bleiben Sie
Philolog, um als solcher sich von der Musik dirigiren zu lassen" (KGB II 2,
Nr. 73, S. 146). - Im Hintergrund steht Wagners ambitioniertes Synthese-Pro-
jekt: „Nun zeigen Sie denn, zu was die Philologie da ist, und helfen Sie mir,
die große ,Renaissance' zu Stande bringen, in welcher Platon den Homer um-
armt, und Homer, von Platons Ideen erfüllt, nun erst recht der allergrösste
Homer wird" (KGB II 2, Nr. 73, S. 146). Auf Wagners Einschätzung dieser Kom-
plementarität von Wissenschaft und Kunst, Philologie und Musik, deren Syn-
these zum vollendeten Werk führen soll, kommt N. auch selbst zu sprechen,
wenn er Wagner am 21. Mai 1870 als den „Dirigent[en] dieser meiner Musik",