302 Richard Wagner in Bayreuth
sein könne als ich es bin: wenn ich es mir denken könnte, würde ich's noch mehr sein.
Aber in kleinen untergeordneten Nebenpunkten und in einer gewissen für mich nothwen-
digen beinahe ,sanitarisch' zu nennenden Enthaltung von häufigerem persönlichen
Zusammenleben muß ich mir eine Freiheit wahren, wirklich nur um jene Treue in einem
höheren Sinne halten zu können. Darüber ist natürlich kein Wort zu sagen, aber es fühlt
sich doch - und es ist dann verzweifelt, wenn es gar Verdrießlichkeiten Mißtrauen und
Schweigen nach sich zieht. Ich hatte diesmal keinen Augenblick daran gedacht, solchen
heftigen Anstoß gegeben zu haben; und ich fürchte immer durch solche Erlebnisse noch
ängstlicher zu werden als ich es schon bin. - Bitte, liebster Freund, Deine offene Ansicht!"
Im selben Brief rühmt N. allerdings Wagners Schrift „über Staat und Religion"
von 1864 als „im edelsten Sinne ,erbaulich"' und möchte ihn mit einer eigenen
Schrift „,der Philosoph als Arzt der Cultur' [...] zu seinem nächsten Geburtstag
[...] überraschen" (KSB 4, Nr. 298, S. 131, 132), die er selbst als ein „Seitenstück
zur ,Geburt'" versteht (ebd.). - Dass N. damit noch nicht die erst von Mitte
April bis zum 25. Juni 1873 (vgl. KSA 14, 59) entstandene UB I David Strauss
der Bekenner und der Schriftsteller gemeint hat, sondern die ebenfalls kulturdi-
agnostisch akzentuierte Schrift Die Philosophie im tragischen Zeitalter der Grie-
chen, zeigt seine Fokussierung auf die Philosophie der Vorsokratiker in den
meisten der Nachlass-Notate von 1872/73 zwischen 21 [6] und 26 [23] (vgl.
KSA 7, 524-585). Unter den Titelvarianten, mit denen N. hier (mehrfach bereits
in deutlicher Affinität zum späteren Titel von PHG) experimentiert, findet sich
auch „Der Philosoph als Arzt der Cultur" (NL 1872-73, 23 [15], KSA 7,
545).
Verlustangst auf der Basis einer geradezu existentiellen Abhängigkeit sig-
nalisiert N. schon am 20. Mai 1873 im Gratulationsbrief zu Wagners 60. Ge-
burtstag: Nach der Anrede „Geliebter Meister" spricht N. erst von der „höch-
sten Dankbarkeits-Verpflichtung" der Deutschen gegenüber Wagner, um dann
zu bekennen: „Was wären wir denn, wenn wir Sie nicht haben dürften, und
was wäre ich zum Beispiel anderes (wie ich jeden Augenblick empfinde) als
ein todtgebornes Wesen! Mich schaudert immer bei dem Gedanken, ich könnte
vielleicht abseits von Ihnen liegen geblieben sein: und dann lohnte sich wahr-
lich nicht zu leben, und ich wüßte gar nicht, was ich mit der nächsten Stunde
beginnen sollte" (KSB 4, Nr. 309, S. 153). - Mehr als ein Jahrzehnt später resü-
miert N. die singuläre Bedeutung, die Richard Wagner für ihn hatte, in einem
nachgelassenen Notat (NL 1885-1886, 2 [34], KSA 12, 80-81):
„Ich habe Richard Wagner mehr geliebt und verehrt als irgend sonst Jemand; und hätte
er zuletzt nicht den schlechten Geschmack - oder die traurige Nöthigung - gehabt, mit
einer mir unmöglichen Qualität von ,Geistern' gemeinsame Sache zu machen, mit seinen
Anhängern, den Wagnerianern, so hätte ich keinen Grund gehabt, ihm schon bei seinen
Lebzeiten Lebewohl zu sagen: ihm, dem Tiefsten und Kühnsten, auch Verkanntesten aller
Schwer-zu-erkennenden von heute, dem begegnet zu sein meiner Erkenntniß mehr als
sein könne als ich es bin: wenn ich es mir denken könnte, würde ich's noch mehr sein.
Aber in kleinen untergeordneten Nebenpunkten und in einer gewissen für mich nothwen-
digen beinahe ,sanitarisch' zu nennenden Enthaltung von häufigerem persönlichen
Zusammenleben muß ich mir eine Freiheit wahren, wirklich nur um jene Treue in einem
höheren Sinne halten zu können. Darüber ist natürlich kein Wort zu sagen, aber es fühlt
sich doch - und es ist dann verzweifelt, wenn es gar Verdrießlichkeiten Mißtrauen und
Schweigen nach sich zieht. Ich hatte diesmal keinen Augenblick daran gedacht, solchen
heftigen Anstoß gegeben zu haben; und ich fürchte immer durch solche Erlebnisse noch
ängstlicher zu werden als ich es schon bin. - Bitte, liebster Freund, Deine offene Ansicht!"
Im selben Brief rühmt N. allerdings Wagners Schrift „über Staat und Religion"
von 1864 als „im edelsten Sinne ,erbaulich"' und möchte ihn mit einer eigenen
Schrift „,der Philosoph als Arzt der Cultur' [...] zu seinem nächsten Geburtstag
[...] überraschen" (KSB 4, Nr. 298, S. 131, 132), die er selbst als ein „Seitenstück
zur ,Geburt'" versteht (ebd.). - Dass N. damit noch nicht die erst von Mitte
April bis zum 25. Juni 1873 (vgl. KSA 14, 59) entstandene UB I David Strauss
der Bekenner und der Schriftsteller gemeint hat, sondern die ebenfalls kulturdi-
agnostisch akzentuierte Schrift Die Philosophie im tragischen Zeitalter der Grie-
chen, zeigt seine Fokussierung auf die Philosophie der Vorsokratiker in den
meisten der Nachlass-Notate von 1872/73 zwischen 21 [6] und 26 [23] (vgl.
KSA 7, 524-585). Unter den Titelvarianten, mit denen N. hier (mehrfach bereits
in deutlicher Affinität zum späteren Titel von PHG) experimentiert, findet sich
auch „Der Philosoph als Arzt der Cultur" (NL 1872-73, 23 [15], KSA 7,
545).
Verlustangst auf der Basis einer geradezu existentiellen Abhängigkeit sig-
nalisiert N. schon am 20. Mai 1873 im Gratulationsbrief zu Wagners 60. Ge-
burtstag: Nach der Anrede „Geliebter Meister" spricht N. erst von der „höch-
sten Dankbarkeits-Verpflichtung" der Deutschen gegenüber Wagner, um dann
zu bekennen: „Was wären wir denn, wenn wir Sie nicht haben dürften, und
was wäre ich zum Beispiel anderes (wie ich jeden Augenblick empfinde) als
ein todtgebornes Wesen! Mich schaudert immer bei dem Gedanken, ich könnte
vielleicht abseits von Ihnen liegen geblieben sein: und dann lohnte sich wahr-
lich nicht zu leben, und ich wüßte gar nicht, was ich mit der nächsten Stunde
beginnen sollte" (KSB 4, Nr. 309, S. 153). - Mehr als ein Jahrzehnt später resü-
miert N. die singuläre Bedeutung, die Richard Wagner für ihn hatte, in einem
nachgelassenen Notat (NL 1885-1886, 2 [34], KSA 12, 80-81):
„Ich habe Richard Wagner mehr geliebt und verehrt als irgend sonst Jemand; und hätte
er zuletzt nicht den schlechten Geschmack - oder die traurige Nöthigung - gehabt, mit
einer mir unmöglichen Qualität von ,Geistern' gemeinsame Sache zu machen, mit seinen
Anhängern, den Wagnerianern, so hätte ich keinen Grund gehabt, ihm schon bei seinen
Lebzeiten Lebewohl zu sagen: ihm, dem Tiefsten und Kühnsten, auch Verkanntesten aller
Schwer-zu-erkennenden von heute, dem begegnet zu sein meiner Erkenntniß mehr als