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Neymeyr, Barbara; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Mitarb.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 1,4): Kommentar zu Nietzsches "Unzeitgemässen Betrachtungen": III. Schopenhauer als Erzieher, IV. Richard Wagner in Bayreuth — Berlin, Boston: de Gruyter, 2020

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https://doi.org/10.11588/diglit.69928#0330
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Überblickskommentar, Kapitel IV.3: Ambivalentes Verhältnis zu Wagner 303

irgend eine andere Begegnung förderlich gewesen ist. Vorangestellt, was voran steht, daß
seine Sache und meine Sache nicht verwechselt werden wollte, und daß es ein gutes
Stück Selbst-Überwindung bedurfte, ehe ich dergestalt ,Sein' und ,Mein' mit gebühren-
dem Schnitte zu trennen lernte. Daß ich über das außerordentliche Problem des Schau-
spielers zur Besinnung gekommen bin - ein Problem, das mir vielleicht ferner liegt als
irgend ein andres, aus einem schwer aussprechbaren Grunde - daß ich den Schauspieler
im Grunde jedes Künstlers entdeckte und wiedererkannte, das Typisch-Künstlerhafte,
dazu bedurfte es der Berührung mit jenem <Manne> - und es scheint mir, daß ich von
Beiden höher und - schlimmer denke als frühere Philosophen. - Die Verbesserung des
Theaters geht mich wenig an, seine ,Verkirchlichung' noch weniger; die eigentliche Wag-
ner'sche Musik gehört mir nicht genug zu - ich würde sie zu meinem Glücke und zu
meiner Gesundheit entbehren können (quod erat demonstrandum et demonstratum). Was
mir am fremdesten an ihm war, die Deutschthümelei und Halbkirchlichkeit seiner letzten
Jahre -"
In diesem Sinne schreibt N. in Ecce homo über die Entstehungszeit von Mensch-
liches, Allzumenschliches: „Die Anfänge dieses Buchs gehören mitten in die Wo-
chen der ersten Bayreuther Festspiele hinein; eine tiefe Fremdheit gegen Alles,
was mich dort umgab, ist eine seiner Voraussetzungen [...]. Ich erkannte Nichts
wieder, ich erkannte kaum Wagner wieder. Umsonst blätterte ich in meinen
Erinnerungen. Tribschen - eine ferne Insel der Glückseligen: kein Schatten von
Ähnlichkeit. [...] Man hatte Wagner ins Deutsche übersetzt! Der Wagnerianer
war Herr über Wagner geworden!" (KSA 6, 323, 15-29).
In einem Nachlass-Notat aus dem Sommer 1878 attestiert N. den Wagneria-
nern eine ihm selbst philiströs erscheinende innere Stagnation und ein eska-
pistisches Bedürfnis nach ästhetischer Erhebung; sie ermögliche ihnen vorü-
bergehend mentale Fluchten aus einer banalen und konventionellen Existenz:
„Wagnerianer wollen nichts an sich ändern, leben im Verdruss über Fades Con-
ventionelles Brutales - die Kunst soll zeitweilig magisch sie darüber hinaus-
heben. Willensschwäche" (NL 1878, 29 [46], KSA 8, 519). In diesem Sinne sieht
N. die Kunst für die Wagnerianer zum Medium einer Weltflucht depravieren.
In derselben Zeitphase reflektiert er zeittypische Aspekte an Wagner, denen er
eine besondere Wirkung auf die Zeitgenossen zuschreibt: „Was aus unserer
Zeit drückt Wagner aus? Das Nebeneinander von Roheit und zartester Schwä-
che, Naturtrieb-Verwilderung und nervöser Über-Empfindsamkeit, Sucht nach
Emotion aus Ermüdung und Lust an der Ermüdung. - Dies verstehen die Wag-
nerianer" (NL 1878, 27 [32], KSA 8, 492). Diese spezifischen Effekte der Wagner-
schen Musik korrespondieren nach N.s Auffassung einerseits mit Charak-
tereigenschaften des Komponisten: „Roheit neben überreizter Sensibilität"
(NL 1878, 30 [166], KSA 8, 552); andererseits entsprechen sie seines Erachtens
bestimmten künstlerischen Defiziten Wagners, der zum „Princip" erhoben
habe, „was seiner Ausbildung fehlt": „Die Stimmung ersetzt die Composi-
 
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