Überblickskommentar, Kapitel IV.3: Ambivalentes Verhältnis zu Wagner 311
kennen lassen als die späteren. Dadurch schafft er sich eine Basis, um Wagners
Musiktheorie und seine Kompositionsstrategien gleichermaßen zu attackieren.
In diesem Sinne äußert sich N. auch 1888 in seiner Schrift Der Fall Wagner:
„Thatsächlich hat er sein ganzes Leben Einen Satz wiederholt: dass seine Mu-
sik nicht nur Musik bedeute! Sondern mehr! Sondern unendlich viel mehr! ...
,Nicht nur Musik' - so redet kein Musiker. [...] Wagner konnte nicht aus dem
Ganzen schaffen, er hatte gar keine Wahl, er musste Stückwerk machen, ,Moti-
ve', Gebärden, Formeln, Verdopplungen und Verhundertfachungen, er blieb
Rhetor als Musiker - er musste grundsätzlich deshalb das ,es bedeutet' in
den Vordergrund bringen. ,Die Musik ist immer nur ein Mittel': das war seine
Theorie, das war vor Allem die einzige ihm überhaupt mögliche Praxis. Aber
so denkt kein Musiker" (KSA 6, 35, 23 - 36, 3).
Aus dieser Bewertung zieht N. in seiner Schrift Der Fall Wagner die Konse-
quenz: „Ich habe erklärt, wohin Wagner gehört - nicht in die Geschichte der
Musik. Was bedeutet er trotzdem in deren Geschichte? Die Heraufkunft
des Schauspielers in der Musik: ein capitales Ereigniss, das zu den-
ken, das vielleicht auch zu fürchten giebt. In Formel: ,Wagner und Liszt.' -
Noch nie wurde die Rechtschaffenheit der Musiker, ihre ,Echtheit' gleich ge-
fährlich auf die Probe gestellt. Man greift es mit Händen: Der grosse Erfolg, der
Massen-Erfolg ist nicht mehr auf der Seite der Echten, - man muss Schauspie-
ler sein, ihn zu haben! - Victor Hugo und Richard Wagner - sie bedeuten Ein
und Dasselbe: dass in Niedergangs-Culturen, dass überall, wo den Massen die
Entscheidung in die Hände fällt, die Echtheit überflüssig, nachtheilig, zurück-
setzend wird" (KSA 6, 37, 21-33). Anschließend erklärt N. dezidiert: „Das espres-
sivo um jeden Preis, wie es das Wagnerische Ideal, das decadence-Ideal ver-
langt, verträgt sich schlecht mit Begabung" (KSA 6, 38, 33 - 39, 1). Und in einer
anderen Passage von Der Fall Wagner betont er: „Der Schauspieler Wagner ist ein
Tyrann, sein Pathos wirft jeden Geschmack, jeden Widerstand über den Haufen"
(KSA 6, 29, 27-29).
Im Text 99 der Fröhlichen Wissenschaft hingegen beurteilt N. Wagner und
die Künstler generell noch erheblich konzilianter: „Man kann sich nicht genug
davor hüten, einem Künstler um einer gelegentlichen, vielleicht sehr unglück-
lichen und anmaasslichen Maskerade willen gram zu werden; vergessen wir
doch nicht, dass die lieben Künstler sammt und sonders ein wenig Schauspie-
ler sind und sein müssen [...]. Bleiben wir Wagnern in dem treu, was an ihm
wahr und ursprünglich ist" (KSA 3, 456, 22-31). N.s eigene Rhetorik, die durch
eine Fülle von Stilmitteln ebenfalls auf maximale Wirkung bei den Lesern zielt
und vor allem in seinen Spätschriften immer stärker hervortritt, weist durchaus
gewisse Affinitäten zu den wirkungsästhetischen Strategien Wagners auf. Oft
inszeniert N. dort selbst eine pathetische Emphase, die sich mitunter bis zu
kennen lassen als die späteren. Dadurch schafft er sich eine Basis, um Wagners
Musiktheorie und seine Kompositionsstrategien gleichermaßen zu attackieren.
In diesem Sinne äußert sich N. auch 1888 in seiner Schrift Der Fall Wagner:
„Thatsächlich hat er sein ganzes Leben Einen Satz wiederholt: dass seine Mu-
sik nicht nur Musik bedeute! Sondern mehr! Sondern unendlich viel mehr! ...
,Nicht nur Musik' - so redet kein Musiker. [...] Wagner konnte nicht aus dem
Ganzen schaffen, er hatte gar keine Wahl, er musste Stückwerk machen, ,Moti-
ve', Gebärden, Formeln, Verdopplungen und Verhundertfachungen, er blieb
Rhetor als Musiker - er musste grundsätzlich deshalb das ,es bedeutet' in
den Vordergrund bringen. ,Die Musik ist immer nur ein Mittel': das war seine
Theorie, das war vor Allem die einzige ihm überhaupt mögliche Praxis. Aber
so denkt kein Musiker" (KSA 6, 35, 23 - 36, 3).
Aus dieser Bewertung zieht N. in seiner Schrift Der Fall Wagner die Konse-
quenz: „Ich habe erklärt, wohin Wagner gehört - nicht in die Geschichte der
Musik. Was bedeutet er trotzdem in deren Geschichte? Die Heraufkunft
des Schauspielers in der Musik: ein capitales Ereigniss, das zu den-
ken, das vielleicht auch zu fürchten giebt. In Formel: ,Wagner und Liszt.' -
Noch nie wurde die Rechtschaffenheit der Musiker, ihre ,Echtheit' gleich ge-
fährlich auf die Probe gestellt. Man greift es mit Händen: Der grosse Erfolg, der
Massen-Erfolg ist nicht mehr auf der Seite der Echten, - man muss Schauspie-
ler sein, ihn zu haben! - Victor Hugo und Richard Wagner - sie bedeuten Ein
und Dasselbe: dass in Niedergangs-Culturen, dass überall, wo den Massen die
Entscheidung in die Hände fällt, die Echtheit überflüssig, nachtheilig, zurück-
setzend wird" (KSA 6, 37, 21-33). Anschließend erklärt N. dezidiert: „Das espres-
sivo um jeden Preis, wie es das Wagnerische Ideal, das decadence-Ideal ver-
langt, verträgt sich schlecht mit Begabung" (KSA 6, 38, 33 - 39, 1). Und in einer
anderen Passage von Der Fall Wagner betont er: „Der Schauspieler Wagner ist ein
Tyrann, sein Pathos wirft jeden Geschmack, jeden Widerstand über den Haufen"
(KSA 6, 29, 27-29).
Im Text 99 der Fröhlichen Wissenschaft hingegen beurteilt N. Wagner und
die Künstler generell noch erheblich konzilianter: „Man kann sich nicht genug
davor hüten, einem Künstler um einer gelegentlichen, vielleicht sehr unglück-
lichen und anmaasslichen Maskerade willen gram zu werden; vergessen wir
doch nicht, dass die lieben Künstler sammt und sonders ein wenig Schauspie-
ler sind und sein müssen [...]. Bleiben wir Wagnern in dem treu, was an ihm
wahr und ursprünglich ist" (KSA 3, 456, 22-31). N.s eigene Rhetorik, die durch
eine Fülle von Stilmitteln ebenfalls auf maximale Wirkung bei den Lesern zielt
und vor allem in seinen Spätschriften immer stärker hervortritt, weist durchaus
gewisse Affinitäten zu den wirkungsästhetischen Strategien Wagners auf. Oft
inszeniert N. dort selbst eine pathetische Emphase, die sich mitunter bis zu