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Neymeyr, Barbara; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Mitarb.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 1,4): Kommentar zu Nietzsches "Unzeitgemässen Betrachtungen": III. Schopenhauer als Erzieher, IV. Richard Wagner in Bayreuth — Berlin, Boston: de Gruyter, 2020

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https://doi.org/10.11588/diglit.69928#0339
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312 Richard Wagner in Bayreuth

manieristischer Virtuosität steigern kann, und setzt gezielt rhetorische Rausch-
mittel ein, um mithilfe starker Effekte Aufmerksamkeit zu erregen oder sogar
zu provozieren (vgl. Jochen Schmidt 2016, 44-49).
Der moderaten Einschätzung von Wagners schauspielerhafter Attitüde im
Text 99 der Fröhlichen Wissenschaft stehen sieben Jahre später die kritischen
Urteile N.s in Der Fall Wagner und in Nietzsche contra Wagner diametral gegen-
über. In seiner Spätschrift Der Fall Wagner diskreditiert N. mit Nachdruck das
schauspielerhafte, auf Effekt zielende Kalkül des Komponisten, wenn er eine
strategische Expressivität als ein Ideal der Decadence charakterisiert, das „mit
Begabung" nicht kompatibel sei (KSA 6, 39, 1). An diese markante Formulie-
rung schließt N. dann in Nietzsche contra Wagner an, indem er das lapidare
Negativ-Fazit zieht: „Das espressivo um jeden Preis und die Musik im Dienste,
in der Sklaverei der Attitüde - das ist das Ende ..." (KSA 6, 422, 25-27).
Zum Stellenwert der ,Attitüde' in Wagners Wirkungsstrategien und in N.s Ver-
dikt über sie vgl. NK 474, 3-11.
Schon in nachgelassenen Notaten, die bis zum Frühjahr 1874 entstanden,
sind N.s Perspektiven auf Wagners Werdegang pejorativ eingefärbt: „Keiner
unserer grossen Musiker war in seinem 28ten Jahr ein noch so schlechter Musi-
ker wie Wagner. [...] Die Jugend Wagner's ist die eines vielseitigen Dilettanten,
aus dem nichts Rechtes werden will" (NL 1874, 32 [15], KSA 7, 759). In UB IV WB
mildert N. diese Perspektive dann allerdings erheblich ab, indem er sie ins
Hypothetische eines ersten Eindrucks zurücknimmt und dadurch relativiert:
„die Malerei, die Dichtkunst, die Schauspielerei, die Musik kamen ihm so nahe
als die gelehrtenhafte Erziehung und Zukunft; wer oberflächlich hinblickte,
mochte meinen, er sei zum Dilettantisiren geboren" (436, 4-7).
Obwohl N. UB IV WB in einem Briefentwurf an Wagner vom Juli 1876 als
„eine Art von Bayreuther Festpredigt" offeriert und der Apostrophe „geliebte-
ster Meister" noch die (längst nicht mehr aufrichtige) Grußformel folgen lässt
„Mit ganzem, vollen Herzen Ihnen zugehörig" (KSB 5, Nr. 537, S. 173), kritisiert
er schon im Sommer 1875, also ein Jahr vor der Publikation von UB IV WB,
„das Maaßlose [...] die Neigung zu Pomp und Luxus [...], das Eifer-
süchtige" an Wagner: Wie er „der Entwicklung auf sich hin Nothwendig-
keit zumißt, so sieht er die andern Entwicklungen als Ab- und Nebenwege,
auch Irrwege an, als entzogene Kräfte, als Vergeudung, und zürnt darüber"
(NL 1875, 11 [6], KSA 8, 191-192). Außerdem kritisiert N. Wagners „List und
Kunst der Täuschung", sein „Immer Recht haben" und erklärt: „So
gewöhnt er sich, sich lieben zu lassen und dabei zu herrschen" (NL 1875, 11
[6], KSA 8, 192). - In der Spätschrift Der Fall Wagner von 1888 spitzt N. diese
psychologische Konstellation dann satirisch zu. Hier karikiert er die „drei
werthvollsten Prozeduren" in den Schriften des Komponisten (KSA 6, 35, 10):
 
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