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Neymeyr, Barbara; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Contr.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 1,4): Kommentar zu Nietzsches "Unzeitgemässen Betrachtungen": III. Schopenhauer als Erzieher, IV. Richard Wagner in Bayreuth — Berlin, Boston: de Gruyter, 2020

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https://doi.org/10.11588/diglit.69928#0340
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Überblickskommentar, Kapitel IV.3: Ambivalentes Verhältnis zu Wagner 313

„Alles, was Wagner nicht kann, ist verwerflich. / Wagner könnte noch Vieles:
aber er will es nicht, - aus Rigorosität im Princip. / Alles, was Wagner kann,
wird ihm Niemand nachmachen, hat ihm Keiner vorgemacht, soll ihm Keiner
nachmachen ... / Wagner ist göttlich ... / Diese drei Sätze sind die Quintessenz
von Wagner's Litteratur; der Rest ist - ,Litteratur.'" (KSA 6, 35, 11-18.)
Kritische Charakterisierungen der auf Dominanz bedachten Persönlichkeit
des Komponisten finden sich deutlich vor der Publikation von UB IV WB (An-
fang Juli 1876) bereits in Nachlass-Notaten von 1874: „Wagner ist eine regieren-
de Natur, nur dann in seinem Elemente, nur dann gewiss mässig und fest:
die Hemmung dieses Triebes macht ihn unmässig, excentrisch, widerhaarig"
(NL 1874, 32 [20], KSA 7, 761). „Wagner ist für einen Deutschen zu unbeschei-
den" (NL 1874, 32 [29], KSA 7, 763). Noch radikaler fällt eine psychologische
Diagnose aus, in der N. auch seinen eigenen Part in der Beziehung zu Wagner
mitzureflektieren scheint, der ihn 1872 gleichsam mental adoptiert und ihm
dabei die Rolle eines Sohnes zugewiesen hatte (vgl. KGB II 4, Nr. 333, S. 29):
„Die ,falsche Allmacht' entwickelt etwas ,Tyrannisches' in Wagner. Das Gefühl
ohne Erben zu sein - deshalb sucht er seiner Reformidee die möglichste Brei-
te zu geben und sich gleichsam durch Adoption fortzupflanzen. Streben nach
Legitimität. / Der Tyrann lässt keine andre Individualität gelten als die seinige
und die seiner Vertrauten. Die Gefahr für Wagner ist gross, wenn er Brahms
usw. nicht gelten lässt: oder die Juden" (NL 1874, 32 [32], KSA 7, 764-765). -
Ebenfalls bereits in der Zeitphase bis zum Frühjahr 1874 attestiert N. dem Kom-
ponisten einen „Tyrannensinn für das Colossale" (NL 1874, 32 [34], KSA 7,
765) und erklärt: „Es ist ein Glück, dass Wagner nicht auf einer höheren Stelle,
als Edelmann, geboren ist und nicht auf die politische Sphäre verfiel" (NL 1874,
32 [35], KSA 7, 765). Zugleich hebt er ein spezifisches Charakterdefizit bei ihm her-
vor: „Wagner beseitigt alle seine Schwächen, dadurch dass er sie der Zeit und den
Gegnern aufbürdet" (NL 1874, 32 [33], KSA 7, 765).
In einem anderen nachgelassenen Notat von 1874 beschreibt N. die Proble-
matik von Wagners Musiker-Naturell so: „Als Schauspieler wollte er den Men-
schen nur als den wirksamsten und wirklichsten nachahmen: im höchsten Af-
fect. Denn seine extreme Natur sah in allen andern Zuständen Schwäche und
Unwahrheit. Die Gefahr der Affectmalerei ist für den Künstler ausserordentlich.
Das Berauschende, das Sinnliche Ekstatische, das Plötzliche, das Bewegtsein
um jeden Preis - schreckliche Tendenzen!" (NL 1874, 32 [16], KSA 7, 760). Au-
ßerdem notiert N. 1874: „Hauptsache: die Bedeutung der Kunst, wie sie Wagner
hat, passt nicht in unsre gesellschaftlichen und arbeitenden Verhältnisse. Da-
her instinktive Abneigung gegen das Ungeeignete" (NL 1874, 32 [28], KSA 7,
763). Geradezu vernichtend erscheint N.s Verdikt, wenn er die Qualitäten des
Komponisten in demselben Jahr auf ein Talent zur Imitation reduziert und ihm
 
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