Überblickskommentar, Kapitel IV.3: Ambivalentes Verhältnis zu Wagner 319
Richard Wagners erklärt er 1933: „Und wenn Nietzsche es so darstellt, als sei
Wagner gegen sein Ende plötzlich, ein Überwundener, vor dem christlichen
Kreuz niedergebrochen, so übersieht er oder will übersehen lassen, daß schon
die Gefühlswelt des ,Tannhäuser' diejenige des ,Parsifal' vorwegnimmt und
daß dieser aus einem im tiefsten romantisch-christlichen Lebenswerk die Sum-
me zieht und es mit großartiger Konsequenz zu Ende führt. Das letzte Werk
Wagners ist auch sein theatralischstes, und nicht leicht war eine Künstlerlauf-
bahn logischer als seine. Eine Kunst der Sinnlichkeit und des symbolischen
Formelwesens (denn das Leitmotiv ist eine Formel [...]) führt mit Notwendigkeit
ins zelebriered Kirchliche zurück, ja, ich glaube, daß die heimliche Sehnsucht,
der letzte Ehrgeiz alles Theaters der Ritus ist, aus dem es bei Heiden und Chris-
ten hervorgegangen" (Thomas Mann 1990, Bd. IX, 366). Einige Seiten später
ergänzt Thomas Mann seine Einschätzung um eine psychologische Deutung
von N.s Polemik gegen Wagner, indem er betont, er selbst habe „die unsterbli-
che Wagnerkritik Nietzsche's [...] immer als einen Panegyrikus mit umgekehr-
tem Vorzeichen" empfunden, „als eine andere Form der Verherrlichung [...].
Sie war Liebeshaß, Selbstkasteiung. Wagners Kunst war die große Liebeslei-
denschaft von Nietzsche's Leben" (ebd., 373).
N. hingegen formuliert sein Verdikt über Wagners Parsifal auch anderen-
orts wiederholt mit demonstrativer Unerbittlichkeit. In einem Briefentwurf vom
Sommer 1882 hält er den Klavierauszug des Parsifal für den „Beweis großer
Armut an Erfindung" und „ungeheurer Prätension" sowie „Cagliostrici-
tät" des Komponisten (KSB 6, Nr. 264, S. 224). Und in einer früheren Textver-
sion zu Ecce homo erklärt N. sogar mit provokativer Schärfe und apodiktischem
Nachdruck: „Wagner hätte, nach dem Verbrechen des Parsifal, nicht in Vene-
dig, sondern im Zuchthaus sterben sollen" (KSA 14, 486).
Einen markanten Kontrast zu derartigen Einschätzungen bilden allerdings
die enthusiastischen Aussagen in einem nachgelassenen Notat von 1886/87:
„Vorspiel des P<arsifal>, größte Wohlthat, die mir seit langem erwiesen ist. Die
Macht und Strenge des Gefühls, unbeschreiblich, ich kenne nichts, was das
Christenthum so in der Tiefe nähme und so scharf zum Mitgefühl brächte. Ganz
erhoben und ergriffen - kein Maler hat einen so unbeschreiblich schwermüthi-
gen und zärtlichen B 1ick gemalt wie Wagner" (NL 1886/87, 5 [41], KSA 12, 198-
199). In einem Brief an Heinrich Köselitz fragt N. am 21. Januar 1887 sogar:
„hat Wagner je Etwas besser gemacht?" und rühmt dann die „allerhöchste
psychologische Bewußtheit" sowie die Prägnanz und Nuancierung sublimer
Gefühlsaussagen in dem soeben zum ersten Mal gehörten Parsifal-Vorspiel
(KSB 8, Nr. 793, S. 12): „Die allerhöchste psychologische Bewußtheit und Be-
stimmtheit in Bezug auf das, was hier gesagt, ausgedrückt, mitgetheilt wer-
den soll, die kürzeste und direkteste Form dafür, jede Nuance des Gefühls bis
Richard Wagners erklärt er 1933: „Und wenn Nietzsche es so darstellt, als sei
Wagner gegen sein Ende plötzlich, ein Überwundener, vor dem christlichen
Kreuz niedergebrochen, so übersieht er oder will übersehen lassen, daß schon
die Gefühlswelt des ,Tannhäuser' diejenige des ,Parsifal' vorwegnimmt und
daß dieser aus einem im tiefsten romantisch-christlichen Lebenswerk die Sum-
me zieht und es mit großartiger Konsequenz zu Ende führt. Das letzte Werk
Wagners ist auch sein theatralischstes, und nicht leicht war eine Künstlerlauf-
bahn logischer als seine. Eine Kunst der Sinnlichkeit und des symbolischen
Formelwesens (denn das Leitmotiv ist eine Formel [...]) führt mit Notwendigkeit
ins zelebriered Kirchliche zurück, ja, ich glaube, daß die heimliche Sehnsucht,
der letzte Ehrgeiz alles Theaters der Ritus ist, aus dem es bei Heiden und Chris-
ten hervorgegangen" (Thomas Mann 1990, Bd. IX, 366). Einige Seiten später
ergänzt Thomas Mann seine Einschätzung um eine psychologische Deutung
von N.s Polemik gegen Wagner, indem er betont, er selbst habe „die unsterbli-
che Wagnerkritik Nietzsche's [...] immer als einen Panegyrikus mit umgekehr-
tem Vorzeichen" empfunden, „als eine andere Form der Verherrlichung [...].
Sie war Liebeshaß, Selbstkasteiung. Wagners Kunst war die große Liebeslei-
denschaft von Nietzsche's Leben" (ebd., 373).
N. hingegen formuliert sein Verdikt über Wagners Parsifal auch anderen-
orts wiederholt mit demonstrativer Unerbittlichkeit. In einem Briefentwurf vom
Sommer 1882 hält er den Klavierauszug des Parsifal für den „Beweis großer
Armut an Erfindung" und „ungeheurer Prätension" sowie „Cagliostrici-
tät" des Komponisten (KSB 6, Nr. 264, S. 224). Und in einer früheren Textver-
sion zu Ecce homo erklärt N. sogar mit provokativer Schärfe und apodiktischem
Nachdruck: „Wagner hätte, nach dem Verbrechen des Parsifal, nicht in Vene-
dig, sondern im Zuchthaus sterben sollen" (KSA 14, 486).
Einen markanten Kontrast zu derartigen Einschätzungen bilden allerdings
die enthusiastischen Aussagen in einem nachgelassenen Notat von 1886/87:
„Vorspiel des P<arsifal>, größte Wohlthat, die mir seit langem erwiesen ist. Die
Macht und Strenge des Gefühls, unbeschreiblich, ich kenne nichts, was das
Christenthum so in der Tiefe nähme und so scharf zum Mitgefühl brächte. Ganz
erhoben und ergriffen - kein Maler hat einen so unbeschreiblich schwermüthi-
gen und zärtlichen B 1ick gemalt wie Wagner" (NL 1886/87, 5 [41], KSA 12, 198-
199). In einem Brief an Heinrich Köselitz fragt N. am 21. Januar 1887 sogar:
„hat Wagner je Etwas besser gemacht?" und rühmt dann die „allerhöchste
psychologische Bewußtheit" sowie die Prägnanz und Nuancierung sublimer
Gefühlsaussagen in dem soeben zum ersten Mal gehörten Parsifal-Vorspiel
(KSB 8, Nr. 793, S. 12): „Die allerhöchste psychologische Bewußtheit und Be-
stimmtheit in Bezug auf das, was hier gesagt, ausgedrückt, mitgetheilt wer-
den soll, die kürzeste und direkteste Form dafür, jede Nuance des Gefühls bis