Überblickskommentar, Kapitel IV.3: Ambivalentes Verhältnis zu Wagner 323
Beschränkung unvernünftig zu finden; - und so bewegt sich die Kunst ihrer
Auflösung entgegen" (KSA 2, 183, 13-15). - Offensichtlich mitgemeint ist
Wagner bereits im Text 109, in dem N. erklärt: „Sicherlich aber ist Leichtsinn
oder Schwermuth jeden Grades besser, als eine romantische Rückkehr und
Fahnenflucht, eine Annäherung an das Christenthum in irgend einer Form:
denn mit ihm kann man sich, nach dem gegenwärtigen Stande der Erkennt-
niss, schlechterdings nicht mehr einlassen, ohne sein intellectuales Ge-
wissen heillos zu beschmutzen und vor sich und Anderen preiszugeben"
(KSA 2, 108, 30 - 109, 3).
Liest man das Ende von UB IV WB unter Mitberücksichtigung der kriti-
schen Perspektiven, die N. schon lange vor der Publikation dieser Schrift in
nachgelassenen Notaten und nur wenige Jahre danach in Menschliches, Allzu-
menschliches entwirft, dann fällt zugleich ein entsprechendes Licht auf seine
Schlussprognose in UB IV WB, Wagner werde dem „Volk", das „seine eigene
Geschichte aus den Zeichen der Wagnerischen Kunst herauslesen darf", etwas
sein, „das er uns allen nicht sein kann, nämlich nicht der Seher einer Zukunft,
wie er uns vielleicht erscheinen möchte, sondern der Deuter und Verklärer
einer Vergangenheit" (KSA 1, 509, 34 - 510, 6). - In Menschliches, Allzumensch-
liches II erklärt N. im Text 171 „Die Musik als Spätling jeder Cultur":
„mitunter läutet die Musik wie die Sprache eines versunkenen Zeitalters in eine
erstaunte und neue Welt hinein und kommt zu spät" (KSA 2, 450, 9-11). Und
seine gattungsästhetische Begründung dafür lautet: „Die Musik ist eben nicht
eine allgemeine, überzeitliche Sprache" (KSA 2, 450, 24-25), wie Schopenhauer
behauptet, sondern repräsentiert jeweils „Herbst und Abblühen der zu ihr ge-
hörenden Cultur" (KSA 2, 450, 6-7). Dies gilt laut N. für Komponisten unter-
schiedlicher Epochen gleichermaßen: „Erst in Beethoven's und Rossini's Musik
sang sich das achtzehnte Jahrhundert aus, das Jahrhundert der Schwärmerei,
der zerbrochnen Ideale und des flüchtigen Glückes. So möchte denn ein
Freund empfindsamer Gleichnisse sagen, jede wahrhaft bedeutende Musik sei
Schwanengesang" (KSA 2, 450, 19-24).
Nachdem N. seine These mit mehreren Komponisten aus verschiedenen
Perioden der Musikgeschichte exemplifiziert hat, formuliert er explizit ein kriti-
sches Urteil über Wagner (KSA 2, 450, 31 - 451, 29):
„Vielleicht, dass auch unsere neueste deutsche Musik, so sehr sie herrscht und herrsch-
lustig ist, in kurzer Zeitspanne nicht mehr verstanden wird: denn sie entsprang aus einer
Cultur, die im raschen Absinken begriffen ist; ihr Boden ist jene Reactions- und Restaura-
tions-Periode, in welcher ebenso ein gewisser Katholicismus des Gefühls wie die
Lust an allem heimisch-nationalen Wesen und Urwesen zur Blüthe kam und
über Europa einen gemischten Duft ausgoss: welche beide Richtungen des Empfindens,
in grösster Stärke erfasst und bis in die entferntesten Enden fortgeführt, in der Wagneri-
schen Kunst zuletzt zum Erklingen gekommen sind. Wagner's Aneignung der altheimi-
Beschränkung unvernünftig zu finden; - und so bewegt sich die Kunst ihrer
Auflösung entgegen" (KSA 2, 183, 13-15). - Offensichtlich mitgemeint ist
Wagner bereits im Text 109, in dem N. erklärt: „Sicherlich aber ist Leichtsinn
oder Schwermuth jeden Grades besser, als eine romantische Rückkehr und
Fahnenflucht, eine Annäherung an das Christenthum in irgend einer Form:
denn mit ihm kann man sich, nach dem gegenwärtigen Stande der Erkennt-
niss, schlechterdings nicht mehr einlassen, ohne sein intellectuales Ge-
wissen heillos zu beschmutzen und vor sich und Anderen preiszugeben"
(KSA 2, 108, 30 - 109, 3).
Liest man das Ende von UB IV WB unter Mitberücksichtigung der kriti-
schen Perspektiven, die N. schon lange vor der Publikation dieser Schrift in
nachgelassenen Notaten und nur wenige Jahre danach in Menschliches, Allzu-
menschliches entwirft, dann fällt zugleich ein entsprechendes Licht auf seine
Schlussprognose in UB IV WB, Wagner werde dem „Volk", das „seine eigene
Geschichte aus den Zeichen der Wagnerischen Kunst herauslesen darf", etwas
sein, „das er uns allen nicht sein kann, nämlich nicht der Seher einer Zukunft,
wie er uns vielleicht erscheinen möchte, sondern der Deuter und Verklärer
einer Vergangenheit" (KSA 1, 509, 34 - 510, 6). - In Menschliches, Allzumensch-
liches II erklärt N. im Text 171 „Die Musik als Spätling jeder Cultur":
„mitunter läutet die Musik wie die Sprache eines versunkenen Zeitalters in eine
erstaunte und neue Welt hinein und kommt zu spät" (KSA 2, 450, 9-11). Und
seine gattungsästhetische Begründung dafür lautet: „Die Musik ist eben nicht
eine allgemeine, überzeitliche Sprache" (KSA 2, 450, 24-25), wie Schopenhauer
behauptet, sondern repräsentiert jeweils „Herbst und Abblühen der zu ihr ge-
hörenden Cultur" (KSA 2, 450, 6-7). Dies gilt laut N. für Komponisten unter-
schiedlicher Epochen gleichermaßen: „Erst in Beethoven's und Rossini's Musik
sang sich das achtzehnte Jahrhundert aus, das Jahrhundert der Schwärmerei,
der zerbrochnen Ideale und des flüchtigen Glückes. So möchte denn ein
Freund empfindsamer Gleichnisse sagen, jede wahrhaft bedeutende Musik sei
Schwanengesang" (KSA 2, 450, 19-24).
Nachdem N. seine These mit mehreren Komponisten aus verschiedenen
Perioden der Musikgeschichte exemplifiziert hat, formuliert er explizit ein kriti-
sches Urteil über Wagner (KSA 2, 450, 31 - 451, 29):
„Vielleicht, dass auch unsere neueste deutsche Musik, so sehr sie herrscht und herrsch-
lustig ist, in kurzer Zeitspanne nicht mehr verstanden wird: denn sie entsprang aus einer
Cultur, die im raschen Absinken begriffen ist; ihr Boden ist jene Reactions- und Restaura-
tions-Periode, in welcher ebenso ein gewisser Katholicismus des Gefühls wie die
Lust an allem heimisch-nationalen Wesen und Urwesen zur Blüthe kam und
über Europa einen gemischten Duft ausgoss: welche beide Richtungen des Empfindens,
in grösster Stärke erfasst und bis in die entferntesten Enden fortgeführt, in der Wagneri-
schen Kunst zuletzt zum Erklingen gekommen sind. Wagner's Aneignung der altheimi-