324 Richard Wagner in Bayreuth
sehen Sagen, sein veredelndes Schalten und Walten unter deren so fremdartigen Göttern
und Helden - welche eigentlich souveräne Raubthiere sind [...], die Neubeseelung dieser
Gestalten, denen er den christlich-mittelalterlichen Durst nach verzückter Sinnlichkeit
und Entsinnlichung dazugab [...]: dieser Geist führt den allerletzten Kriegs- und Reac-
tionszug an gegen den Geist der Aufklärung, welcher aus dem vorigen Jahrhundert in
dieses hineinwehte, eben so gegen die übernationalen Gedanken der französischen Um-
sturz-Schwärmerei und der englisch-amerikanischen Nüchternheit [...]. - Ist es aber nicht
ersichtlich, dass die hier - bei Wagner selbst und seinem Anhänge - noch zurückge-
drängt erscheinenden Gedanken- und Empfindungskreise längst von Neuem wieder Ge-
walt bekommen haben, und dass jener späte musikalische Protest gegen sie zumeist in
Ohren hineinklingt, die andere und entgegengesetzte Töne lieber hören?"
Und am Ende dieses Textes, der in Nietzsche contra Wagner mit dem Titel „Eine
Musik ohne Zukunft" wiederkehrt (KSA 6, 423, 14 - 424, 25), ergänzt N. dann
noch den Affront: „so mag dieses Jahrzehend der nationalen Kriege [...] und
der socialistischen Beängstigung in seinen feineren Nachwirkungen auch der
genannten Kunst zu einer plötzlichen Glorie verhelfen, - ohne ihr damit die
Bürgschaft dafür zu geben, dass sie ,Zukunft habe', oder gar, dass sie die
Zukunft habe" (KSA 2, 452, 1-6). - Hier desavouiert N. den emphatischen
Zukunftsanspruch Wagners, dem er in einer Umarbeitung des 3. Textes von
Menschliches, Allzumenschliches I im Januar 1888 attestiert, er gehöre zu den
„Rückständigsten großen Stils, welche unsere Zeit aufzuweisen hat" (KSA 14,
122). Dieses Verdikt über den Komponisten reicht über die spekulative Generali-
sierung hinaus, mit der N. Gattungscharakteristika zu beschreiben versucht:
„Es liegt im Wesen der Musik, dass die Früchte ihrer grossen Cultur-Jahrgänge
zeitiger unschmackhaft werden und rascher verderben, als die Früchte der bil-
denden Kunst oder gar die auf dem Baume der Erkenntniss gewachsenen"
(KSA 2, 452, 6-10). Dennoch bezeichnet N. Wagner als „den Cagliostro der Mo-
dernität" (KSA 6, 53, 2) und betrachtet ihn als den „lehrreichsten Fall",
dessen „Vivisektion" (KSA 6, 53, 9-10) eine „Diagnostik der modernen
Seele" ermögliche (KSA 6, 53, 6).
In der Fröhlichen Wissenschaft von 1882 ordnet N. die Musik Wagners zwar
ebenfalls einer herbstlich-melancholischen Spätzeitlichkeit zu, integriert diese
Perspektive allerdings in einen positiveren Kontext. Zunächst behauptet er hier
im Text 87 „Von der Eitelkeit der Künstler", „dass die Künstler oft nicht
wissen, was sie am besten können, weil sie zu eitel sind und ihren Sinn auf
etwas Stolzeres gerichtet haben" (KSA 3, 444, 28-30). Implizit geht N. dann auf
die „Meisterschaft" des Miniaturisten Wagner ein (KSA 3, 445, 4): „Niemand
kommt ihm gleich in den Farben des späten Herbstes, dem unbeschreiblich
rührenden Glücke eines letzten, allerletzten, allerkürzesten Geniessens, er
kennt einen Klang für jene heimlich-unheimlichen Mitternächte der Seele [...];
er hat den scheuen Blick des verhehlten Schmerzes, des Verstehens ohne Trost,
sehen Sagen, sein veredelndes Schalten und Walten unter deren so fremdartigen Göttern
und Helden - welche eigentlich souveräne Raubthiere sind [...], die Neubeseelung dieser
Gestalten, denen er den christlich-mittelalterlichen Durst nach verzückter Sinnlichkeit
und Entsinnlichung dazugab [...]: dieser Geist führt den allerletzten Kriegs- und Reac-
tionszug an gegen den Geist der Aufklärung, welcher aus dem vorigen Jahrhundert in
dieses hineinwehte, eben so gegen die übernationalen Gedanken der französischen Um-
sturz-Schwärmerei und der englisch-amerikanischen Nüchternheit [...]. - Ist es aber nicht
ersichtlich, dass die hier - bei Wagner selbst und seinem Anhänge - noch zurückge-
drängt erscheinenden Gedanken- und Empfindungskreise längst von Neuem wieder Ge-
walt bekommen haben, und dass jener späte musikalische Protest gegen sie zumeist in
Ohren hineinklingt, die andere und entgegengesetzte Töne lieber hören?"
Und am Ende dieses Textes, der in Nietzsche contra Wagner mit dem Titel „Eine
Musik ohne Zukunft" wiederkehrt (KSA 6, 423, 14 - 424, 25), ergänzt N. dann
noch den Affront: „so mag dieses Jahrzehend der nationalen Kriege [...] und
der socialistischen Beängstigung in seinen feineren Nachwirkungen auch der
genannten Kunst zu einer plötzlichen Glorie verhelfen, - ohne ihr damit die
Bürgschaft dafür zu geben, dass sie ,Zukunft habe', oder gar, dass sie die
Zukunft habe" (KSA 2, 452, 1-6). - Hier desavouiert N. den emphatischen
Zukunftsanspruch Wagners, dem er in einer Umarbeitung des 3. Textes von
Menschliches, Allzumenschliches I im Januar 1888 attestiert, er gehöre zu den
„Rückständigsten großen Stils, welche unsere Zeit aufzuweisen hat" (KSA 14,
122). Dieses Verdikt über den Komponisten reicht über die spekulative Generali-
sierung hinaus, mit der N. Gattungscharakteristika zu beschreiben versucht:
„Es liegt im Wesen der Musik, dass die Früchte ihrer grossen Cultur-Jahrgänge
zeitiger unschmackhaft werden und rascher verderben, als die Früchte der bil-
denden Kunst oder gar die auf dem Baume der Erkenntniss gewachsenen"
(KSA 2, 452, 6-10). Dennoch bezeichnet N. Wagner als „den Cagliostro der Mo-
dernität" (KSA 6, 53, 2) und betrachtet ihn als den „lehrreichsten Fall",
dessen „Vivisektion" (KSA 6, 53, 9-10) eine „Diagnostik der modernen
Seele" ermögliche (KSA 6, 53, 6).
In der Fröhlichen Wissenschaft von 1882 ordnet N. die Musik Wagners zwar
ebenfalls einer herbstlich-melancholischen Spätzeitlichkeit zu, integriert diese
Perspektive allerdings in einen positiveren Kontext. Zunächst behauptet er hier
im Text 87 „Von der Eitelkeit der Künstler", „dass die Künstler oft nicht
wissen, was sie am besten können, weil sie zu eitel sind und ihren Sinn auf
etwas Stolzeres gerichtet haben" (KSA 3, 444, 28-30). Implizit geht N. dann auf
die „Meisterschaft" des Miniaturisten Wagner ein (KSA 3, 445, 4): „Niemand
kommt ihm gleich in den Farben des späten Herbstes, dem unbeschreiblich
rührenden Glücke eines letzten, allerletzten, allerkürzesten Geniessens, er
kennt einen Klang für jene heimlich-unheimlichen Mitternächte der Seele [...];
er hat den scheuen Blick des verhehlten Schmerzes, des Verstehens ohne Trost,