Überblickskommentar, Kapitel IV.3: Ambivalentes Verhältnis zu Wagner 325
des Abschiednehmens ohne Geständniss; ja, als der Orpheus alles heimlichen
Elendes ist er grösser, als irgend Einer, und Manches ist durch ihn überhaupt
der Kunst hinzugefügt worden, was bisher unausdrückbar und selbst der Kunst
unwürdig erschien [...] - manches ganz Kleine und Mikroskopische der Seele:
ja, es ist der Meister des ganz Kleinen. Aber er will es nicht sein! Sein Cha-
rakter liebt vielmehr die grossen Wände und die verwegene Wandmalerei!"
(KSA 3, 445, 6-27). - Mithin verkenne und verleugne der Komponist gerade
seine eigentlichen Qualitäten, indem er sich geltungssüchtig auf das Monu-
mentale kapriziere. In seiner Schrift Jenseits von Gut und Böse rühmt N.
„Richard Wagner's Ouvertüre zu den Meistersingern" als „eine prachtvol-
le, überladene, schwere und späte Kunst, welche den Stolz hat, zu ihrem Ver-
ständniss zwei Jahrhunderte Musik als noch lebendig vorauszusetzen" (KSA 5,
179, 4-8).
In Der Fall Wagner verschiebt sich die Perspektive auf den „alte[n] Zaube-
rer" Wagner dann allerdings ins Pathologische: „Das Erste, was seine Kunst
uns anbietet, ist ein Vergrösserungsglas: man sieht hinein, man traut seinen
Augen nicht - Alles wird gross, selbst Wagner wird gross..." (KSA 6,
16, 18-22). Mit „seinem verderbten Geschmack" habe Wagner als „typischer
decadent" (KSA 6, 21, 18-19) Strategien gefunden, um „müde Nerven zu reizen"
und „die Musik damit krank gemacht" (KSA 6, 23, 13-14). In Nietzsche contra
Wagner kommt noch ein Verdikt hinzu: „Wagner macht krank" (KSA 6, 419, 11).
Auch Der Fall Wagner enthält solche pathologisierenden Aussagen. Hier for-
ciert N. seine aggressive Attacke bis zu der Polemik: „Ich bin ferne davon,
harmlos zuzuschauen, wenn dieser decadent uns die Gesundheit verdirbt -
und die Musik dazu! Ist Wagner überhaupt ein Mensch? Ist er nicht eher eine
Krankheit? Er macht Alles krank, woran er rührt, - er hat die Musik
krank gemacht - " (KSA 6, 21, 13-17). - Relativiert wird dieses Urteil aller-
dings durch N.s Bekenntnis: „Ich bin so gut wie Wagner das Kind dieser Zeit,
will sagen ein decadent: nur dass ich das begriff, nur dass ich mich dagegen
wehrte" (KSA 6, 11, 17-19). Und in Ecce homo erklärt er: „Abgerechnet nämlich,
dass ich ein decadent bin, bin ich auch dessen Gegensatz" (KSA 6, 266, 15-16).
Diese Ambivalenz in N.s Selbstverständnis ist mit dem irritierenden Extremis-
mus seiner Urteile über Richard Wagner dialektisch vermittelt, die leiden-
schaftlichen Enthusiasmus ebenso einschließen wie vehemente Ablehnung.
Im „Versuch einer Selbstkritik" (1886) zu seiner Erstlingsschrift Die Geburt
der Tragödie verurteilt N. Wagners Musik als „eine Nervenverderberin ersten
Ranges, [...] als berauschendes und zugleich benebelndes Narkotikum"
(KSA 1, 20, 24-28). Und in Ecce homo bezeichnet er sie als „narkotische Kunst",
ja als „Opiat" (KSA 6, 325, 21, 29). Vor allem in Der Fall Wagner betrachtet N.
den Komponisten als einen Verführer, der „mit Musik hypnotisirt" (KSA 6, 29,
des Abschiednehmens ohne Geständniss; ja, als der Orpheus alles heimlichen
Elendes ist er grösser, als irgend Einer, und Manches ist durch ihn überhaupt
der Kunst hinzugefügt worden, was bisher unausdrückbar und selbst der Kunst
unwürdig erschien [...] - manches ganz Kleine und Mikroskopische der Seele:
ja, es ist der Meister des ganz Kleinen. Aber er will es nicht sein! Sein Cha-
rakter liebt vielmehr die grossen Wände und die verwegene Wandmalerei!"
(KSA 3, 445, 6-27). - Mithin verkenne und verleugne der Komponist gerade
seine eigentlichen Qualitäten, indem er sich geltungssüchtig auf das Monu-
mentale kapriziere. In seiner Schrift Jenseits von Gut und Böse rühmt N.
„Richard Wagner's Ouvertüre zu den Meistersingern" als „eine prachtvol-
le, überladene, schwere und späte Kunst, welche den Stolz hat, zu ihrem Ver-
ständniss zwei Jahrhunderte Musik als noch lebendig vorauszusetzen" (KSA 5,
179, 4-8).
In Der Fall Wagner verschiebt sich die Perspektive auf den „alte[n] Zaube-
rer" Wagner dann allerdings ins Pathologische: „Das Erste, was seine Kunst
uns anbietet, ist ein Vergrösserungsglas: man sieht hinein, man traut seinen
Augen nicht - Alles wird gross, selbst Wagner wird gross..." (KSA 6,
16, 18-22). Mit „seinem verderbten Geschmack" habe Wagner als „typischer
decadent" (KSA 6, 21, 18-19) Strategien gefunden, um „müde Nerven zu reizen"
und „die Musik damit krank gemacht" (KSA 6, 23, 13-14). In Nietzsche contra
Wagner kommt noch ein Verdikt hinzu: „Wagner macht krank" (KSA 6, 419, 11).
Auch Der Fall Wagner enthält solche pathologisierenden Aussagen. Hier for-
ciert N. seine aggressive Attacke bis zu der Polemik: „Ich bin ferne davon,
harmlos zuzuschauen, wenn dieser decadent uns die Gesundheit verdirbt -
und die Musik dazu! Ist Wagner überhaupt ein Mensch? Ist er nicht eher eine
Krankheit? Er macht Alles krank, woran er rührt, - er hat die Musik
krank gemacht - " (KSA 6, 21, 13-17). - Relativiert wird dieses Urteil aller-
dings durch N.s Bekenntnis: „Ich bin so gut wie Wagner das Kind dieser Zeit,
will sagen ein decadent: nur dass ich das begriff, nur dass ich mich dagegen
wehrte" (KSA 6, 11, 17-19). Und in Ecce homo erklärt er: „Abgerechnet nämlich,
dass ich ein decadent bin, bin ich auch dessen Gegensatz" (KSA 6, 266, 15-16).
Diese Ambivalenz in N.s Selbstverständnis ist mit dem irritierenden Extremis-
mus seiner Urteile über Richard Wagner dialektisch vermittelt, die leiden-
schaftlichen Enthusiasmus ebenso einschließen wie vehemente Ablehnung.
Im „Versuch einer Selbstkritik" (1886) zu seiner Erstlingsschrift Die Geburt
der Tragödie verurteilt N. Wagners Musik als „eine Nervenverderberin ersten
Ranges, [...] als berauschendes und zugleich benebelndes Narkotikum"
(KSA 1, 20, 24-28). Und in Ecce homo bezeichnet er sie als „narkotische Kunst",
ja als „Opiat" (KSA 6, 325, 21, 29). Vor allem in Der Fall Wagner betrachtet N.
den Komponisten als einen Verführer, der „mit Musik hypnotisirt" (KSA 6, 29,