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Neymeyr, Barbara; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Contr.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 1,4): Kommentar zu Nietzsches "Unzeitgemässen Betrachtungen": III. Schopenhauer als Erzieher, IV. Richard Wagner in Bayreuth — Berlin, Boston: de Gruyter, 2020

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https://doi.org/10.11588/diglit.69928#0360
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Überblickskommentar, Kapitel IV.4: Werkkontext 333

lung, in der das Gebot „Schweigen und Reinsein" herrscht (434, 12), bestimmt
die weihevolle Stimmung, die N. als Mystagoge des ,Meisters' beschwört, um
mit biblischem Prophetenton „die grosse Zukunft jenes Ereignisses" zu
verkünden (434, 15-16). Markant prägt sich hier die Analogie zu christlichen
Vorstellungen vom Advent aus: von der ,Ankunft' des Erlösers.
Auf das hymnische Exordium folgt in UB IV WB eine Retrospektive auf
Wagners Leben, die bis zu der (auch entstehungsgeschichtlichen) Zäsur nach
dem 8. Kapitel der Schrift reicht: Dieser Rückblick auf Wagners Entwicklungs-
prozess lässt erkennen, dass sich N. hier einer inneren Biographie des Kompo-
nisten anzunähern versucht - zu einer Zeit, in der dieser selbst mit seiner Auto-
biographie beschäftigt war. Sie erschien 1911 unter dem Titel Mein Leben
allerdings erst postum, mithin Jahrzehnte nach dem Tod Wagners im Jahre
1883. Analog zu den Musik-Dramen des Komponisten konzipiert N. seine Wag-
ner-Kurzbiographie als eine Art „Drama seines Lebens" (437, 1). Seine Intention
besteht darin, das außerordentlich wechselhafte Leben Wagners, seine von Ge-
fährdungen, Krisen und innerer Zerrissenheit bestimmte Existenz psycholo-
gisch zu durchdringen. Dabei reflektiert er auch die Einstellung Wagners zu
seiner eigenen Epoche, sein Leben für die Kunst und seine ästhetischen Kon-
zepte.
In die biographische Darstellung von UB IV WB integriert N. auch skepti-
sche Einschätzungen. Die problematischen Aspekte der Persönlichkeit Wag-
ners und seines Werkes führt N. auf dramatische Turbulenzen eines Entwick-
lungsprozesses zurück, den er als innere Notwendigkeit beschreibt: Durch alles
Chaotische und Wechselhafte hindurch manifestiere sich Wagners „Treue" zu
sich selbst. Dabei rückt N. Bayreuth in eine teleologische Perspektive, weil er
die innere Entwicklung des Komponisten hier an ihr eigentliches Ziel gelangen
sieht. Nach N.s Ansicht erreicht Wagners künstlerischer Anspruch im dritten
Teil des Zyklus Der Ring des Nibelungen seinen Zenit: in der Siegfried-Oper.
Bezeichnenderweise fungieren „Reife und Vollendung" (468, 9) in UB IV WB
als Leitvorstellungen; flankiert werden sie von der Idee der „Läuterung" (474,
20).
Besonderes Gewicht legt N. darauf, „Empfindung", „Gefühl" und „Leiden-
schaft" als die „Seele" von Wagners Musik zu beschreiben (458). Damit verfolgt
er letztlich ein kulturkritisches Interesse - ähnlich wie schon Wagner selbst
in seinen theoretischen Schriften. N. betont den Gegensatz zwischen genuiner
Kultur und einer banalen ,Civilisation', in der die Kunst von hektischer Betrieb-
samkeit überlagert und zugleich depraviert wird, weil sie nur noch den trivia-
len Unterhaltungsbedürfnissen einer Luxusgesellschaft dient. In UB IV WB ver-
bindet er mit der Musik und Ästhetik Wagners noch die Utopie einer kulturellen
Erneuerung durch das Potential einer wiedergewonnenen originären Innerlich-
 
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