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Neymeyr, Barbara; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Contr.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 1,4): Kommentar zu Nietzsches "Unzeitgemässen Betrachtungen": III. Schopenhauer als Erzieher, IV. Richard Wagner in Bayreuth — Berlin, Boston: de Gruyter, 2020

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https://doi.org/10.11588/diglit.69928#0362
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Überblickskommentar, Kapitel IV.4: Werkkontext 335

30). Emphatisch erklärt N. aus der Perspektive Wagners: „Wirkung, unver-
gleichliche Wirkung vom Theater aus!" (475, 15).
Später macht N. gerade diesen Aspekt zum Ausgangspunkt für seine radi-
kalen Attacken in der Spätschrift Der Fall Wagner: „er will die Wirkung, er will
Nichts als die Wirkung" (KSA 6, 31, 5-6). Aber schon Anfang 1874 gibt N. im
Vorfeld der Konzeption von UB IV WB eine psychologische Analyse von Wag-
ners Wirkungsobsession: „Das frühste Problem Wagners ist: warum bleibt die
Wirkung aus, da ich sie empfange. Dieß treibt ihn zu einer Kritik des Publi-
kums, der Gesellschaft, des Staates. Sein Instinkt führte ihn zuerst dahin, zwi-
schen Künstler und Publicum das Verhältniß von Subjekt und Objekt vorauszu-
setzen. Seine Erfahrung zeigt ihm, daß das Verhältniß leider ein ganz anderes
ist, und er wird zum Kritiker seiner Zeit" (NL 1874, 33 [6], KSA 7, 789). - Wagner
selbst hatte in seiner theoretischen Hauptschrift Oper und Drama, die N. inten-
siv studierte und auch für UB IV WB mit heranzog, an Meyerbeers Musik das
Streben nach dem ,Effekt' kritisiert: „Das Geheimniß der Meyerbeer'schen
Opernmusik ist - der Effekt [...] wollen wir [...] genauer Das bezeichnen, was
wir unter diesem Worte verstehen, so dürfen wir ,Effekt' übersetzen durch
,Wirkung ohne Ursache'" (GSD III, 301). Ein Echo darauf findet sich in
UB IV WB, wo N. den Komponisten Meyerbeer auch selbst erwähnt (474, 3-7).
Allerdings betrachtet N. in UB IV WB die Effekthascherei für Wagner eben-
falls als eine große Versuchung, die dieser schließlich aber in einem Prozess
der ,Läuterung' überwunden habe (482-483), indem er „seinem eigensten
Rhythmus" (483, 28), mithin seiner inneren künstlerischen Notwendigkeit ge-
folgt sei, statt seine Wirkungsmittel bloß nach den äußerlichen „Erfolgen" und
„Siegen" (483, 16) bei einem fragwürdigen Theater-Publikum zu berechnen.
Deshalb habe Wagner „den Gedanken von Bayreuth" erfunden (483, 29-
30), um seinen unverwechselbaren „neuen Styl" zur Geltung bringen (481, 21)
und sogar eine eigene „Styl-Ueberlieferung" begründen zu können (481,
23). In diese Ausführungen nimmt N. programmatische Elemente aus Wagners
theoretischen Schriften auf, die man durchaus auch als Mahnung verstehen
könnte, der Wirkungsobsession nicht unkontrolliert nachzugeben.
Im 8. Kapitel von UB IV WB erreicht N. einen vorläufigen Abschluss seines
Gedankengangs, stößt zugleich aber auch bereits an die Grenzen seiner Wag-
ner-Adoration, indem er sie selbst immer mehr durch skeptische Vorbehalte
hinterfragt und relativiert. - Das durch wachsende Ambivalenzen kompliziert
gewordene Verhältnis N.s zu Wagner bildete wohl den Hauptgrund dafür, dass
er die Niederschrift von UB IV WB an dieser Stelle unterbrach und den Text
dann erst nach einer langen Pause im Mai 1876 zügig beendete, um noch recht-
zeitig vor dem Bayreuther ,Ereignis' die Drucklegung zu ermöglichen. Daneben
trugen allerdings auch die gravierenden gesundheitlichen Probleme N.s maß-
geblich zur Retardation der Niederschrift bei.
 
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