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Neymeyr, Barbara; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Mitarb.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 1,4): Kommentar zu Nietzsches "Unzeitgemässen Betrachtungen": III. Schopenhauer als Erzieher, IV. Richard Wagner in Bayreuth — Berlin, Boston: de Gruyter, 2020

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https://doi.org/10.11588/diglit.69928#0364
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Überblickskommentar, Kapitel IV.4: Werkkontext 337

Welt, welche der Kunst wahrhaft bedürftig ist und von ihr auch wahr-
hafte Befriedigungen erwarten kann" (507, 4-7).
Vergeblich versucht N. den problematischen Spagat zwischen Idealismus
und Pragmatismus bei Wagner zu rechtfertigen: die Tatsache, dass dieser trotz
aller idealisch forcierten Zukunftsrhetorik mit den „bestehenden Mächten"
paktierte (504, 19). Einerseits exponiert N. das politische Engagement Wagners
im Dresdner Aufstand von 1849 und seine fortwirkenden kulturrevolutionären
Impulse, indem er ihn in UB IV WB zunächst als Revolutionär und dann im-
merhin noch als Reformator würdigt. Andererseits jedoch begrüßt er auch
Wagners Bemühungen, sich „in den Zeiten der Erdbeben und Umstürze" (504,
20) an die „bestehenden Mächte" anzuschließen: an den bayrischen König
Ludwig II. als seinen Mäzen und nach dem deutsch-französischen Krieg von
1870/71 auch an den neugekrönten deutschen Kaiser Wilhelm I. in Berlin. Für
ihn komponierte Wagner sogar rasch den von N. erwähnten Kaiser-Marsch -
allerdings in der vergeblichen Hoffnung, dieser könne zur Nationalhymne des
deutschen Kaiserreichs avancieren. Vgl. dazu NK 504, 31-32.
Die Darstellung, in der N. diese diametral entgegengesetzten Positionen
Wagners miteinander kompatibel zu machen versucht, verrät eine gewisse Ver-
legenheit. Auch Wagners kulturkonservative Wendung zu den „edelsten Be-
sitzthümer[n] der Menschheit" (504, 21) und sogar zu musealen „Schatzhäu-
sern" (504, 24) verträgt sich nicht ohne weiteres mit der kulturrevolutionären
Programmatik und Zukunftsemphase. Zur Vision einer idealen ,Zukunft', die
N. in UB IV WB inszeniert, gehört auch die Imago von Wagners Opernheros
Siegfried, der den Prototyp des „freien furchtlosen" Menschen darstellen soll
(508, 20, 30). N. betrachtet ihn geradezu als die Inkarnation einer idealen Zu-
kunft und interpretiert Siegfrieds ,Natur', sein ,freies' Wesen, als individuelle
Antizipation einer freien Menschheit, um dann die appellative Frage folgen zu
lassen: „Wo sind [...] die Freien, Furchtlosen, in unschuldiger Selbstigkeit aus
sich Wachsenden und Blühenden, die Siegfriede unter euch?" (509, 26-31).
Der Nachdruck, mit dem N. in UB IV WB auf Wagners Siegfried-Figur ein-
geht, hat zugleich auch einen biographischen Hintergrund. Am 15. August 1869
schrieb er seinem Freund Erwin Rohde über einen seiner Aufenthalte bei Wag-
ner in Tribschen bei Luzern am 6. Juni 1869: „Als ich das vorletzte Mal dort
war, kam gerade in der Nacht meines Aufenthaltes ein kleiner Junge zur Welt,
,Siegfried' zubenannt. Als ich das letzte Mal dort war, wurde Wagner gerade
fertig mit der Composition seines ,Siegfried' und war im üppigsten Gefühl sei-
ner Kraft" (KSB 3, Nr. 22, S. 42). Auch schenkte ihm Wagner die Partitur des
Klavier-Auszugs zu seiner Siegfried-Oper, die den dritten Teil des Zyklus Der
Ring des Nibelungen bildet, und dies sogar geraume Zeit vor der Veröffentli-
chung, wie N. am 30. Dezember 1870 in einem Brief an seine Mutter und
 
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