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Neymeyr, Barbara; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Mitarb.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 1,4): Kommentar zu Nietzsches "Unzeitgemässen Betrachtungen": III. Schopenhauer als Erzieher, IV. Richard Wagner in Bayreuth — Berlin, Boston: de Gruyter, 2020

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https://doi.org/10.11588/diglit.69928#0374
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Überblickskommentar, Kapitel IV.5: Struktur 347

gien. Im Zuge seiner weiteren künstlerischen Entwicklung habe sich Wagners
Intention dann grundlegend verändert: Statt der „Luxus-Gesellschaft" gefallen
zu wollen (475), die gar kein genuines Bedürfnis nach der Kunst habe, wolle
er mit „Mythos und Musik" (476) auf die Not des Volkes antworten, die er als
verwandt mit der seinigen betrachte. Daher habe Wagner dem Mythos seine
verlorene Potenz und der Musik eine ausdrucksvolle Sprache zurückgegeben,
um dem Volk Trost und ein höheres Glück zuteil werden zu lassen. Zugleich
wolle er den einsamen Künstler selbst mit der „Vielheit" zusammenbringen
(477).
Mit diesen Intentionen Wagners kontrastiert N. die Problematik der tat-
sächlichen Rezeption: Die typische „ästhetische Schreib- und Schwatzselig-
keit" der Deutschen (477) habe dazu geführt, dass man Wagners Kunst gelehrt
zerrede. Auch seinen Gegenschriften seien nur kontraproduktive Wirkungen
beschieden gewesen. Denn sie hätten ihm das Negativetikett „Theoretiker" be-
schert (478) und zur Verbreitung des Vorurteils beigetragen, dass sich seine
Kunst in kalkulierter Montage bereits erschöpfe. Zum Elend einer Flüchtlings-
existenz verdammt (477), habe Wagner schließlich einen Wendepunkt erreicht,
an dem seine Kunst zu genialer Tiefe gereift sei und ein authentisches Aus-
drucksvermögen erlangt habe. Nachdem er zunächst ganz auf die maximale
Wirkung beim Publikum fixiert gewesen sei, habe Wagner später - so N. mit
deutlicher Affinität zur Schopenhauerschen Musikmetaphysik - „mit seiner ei-
gensten Sprache" begonnen, „über das Wesen der Welt [...] in Tönen [zu] philo-
sophiren" (479).
Euphorisch lobt N. Wagners Oper Tristan und Isolde als „das eigentliche
opus metaphysicum aller Kunst" (479). Kurz danach sei es dem Komponisten
überdies gelungen, in der Oper Die Meistersinger von Nürnberg „ein Weltbild
der verschiedensten Färbung" zu schaffen (479). Dann habe er sich dem „vier-
theiligen Riesenbau" seines Zyklus Der Ring des Nibelungen zugewendet (479).
N. beschreibt Wagners künstlerische Entwicklung als einen Prozess fortschrei-
tender Versöhnung mit der Welt und betrachtet es als gutes Omen, dass sich
um Wagner inzwischen ein Kreis treuer Anhänger formiere (480).
Allerdings habe der einsetzende Erfolg auf problematische Weise öffentli-
che Missverständnisse hinsichtlich der Musik Wagners gemäß tradierten Kon-
ventionen gefördert (482), bis sein „einzig-hoher Gedanke" im kommerziellen
Erfolg seiner Opern, in einer eigentümlichen „Leichtfertigkeit" der Rezeption
untergegangen sei (483). Aus dem Bewusstsein einer inneren Verpflichtung ge-
genüber seinem Werk habe Wagner dann allerdings beschlossen, eine unver-
wechselbare „Styl-Ueberlieferung zu begründen" (481), und zu diesem
Zweck „den Gedanken von Bayreuth" erfunden (483). N. betont Wagners
selbstlose Treue und Opferbereitschaft und sieht über dessen Leben einen
 
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