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Neymeyr, Barbara; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Contr.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 1,4): Kommentar zu Nietzsches "Unzeitgemässen Betrachtungen": III. Schopenhauer als Erzieher, IV. Richard Wagner in Bayreuth — Berlin, Boston: de Gruyter, 2020

DOI Page / Citation link: 
https://doi.org/10.11588/diglit.69928#0382
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Überblickskommentar, Kapitel IV.6: Selbstaussagen Nietzsches 355

Gestus der Selbstrechtfertigung allerdings stärker ausprägt als selbstkritische
Überlegungen. Hier charakterisiert N. die eigene frühere Tendenz zum Glorifi-
zieren als ein altersspezifisches Phänomen und beschreibt dann die Problema-
tik des jugendlichen Extremismus: „Man verehrt und verachtet in jungen Jah-
ren wie ein Narr" (NL 1885, 41 [2], KSA 11, 669). Seine anschließende generelle
Feststellung wirkt wie eine implizite Selbstentlarvung: „Jugend selber ist
etwas Fälschendes und Betrügerisches. Es scheint, daß das Ehrfürchtige und
Zornige, was der Jugend eignet, durchaus keine Ruhe hat, als bis es sich Men-
schen und Dinge so zurecht ,gefälscht hat', bis es an denselben seine Affekte
entladen kann. Später, wo man stärker, tiefer, auch ,wahrhaftiger' geworden
ist, erschrickt man zu entdecken, wie wenig man damals die Augen offen gehabt
hat, als man auf diesen Altären opferte", und „zürnt sich wegen dieser Selbst-
Verblendung", als wäre sie „eine unredliche Blindheit gewesen" (NL 1885, 41 [2],
KSA 11, 670). In diesem Zusammenhang klingt auch bereits N.s retrospektiver
Standardvorwurf an, Wagner sei eine histrionische Persönlichkeit gewesen:
„Man zürnt sich, all das Eitle, Übertreibende, Unächte, Geschminkte, Schauspie-
lerische an unseren geliebten Götzen nicht gesehn zu haben" (ebd).
In Jenseits von Gut und Böse findet sich eine analoge Einschätzung, an die
N. eine erhellende Analyse mentaler Dispositionen anschließt. Hier konstatiert
er mehrere Entwicklungsphasen, die er mit psychologischer Konsequenz aufei-
nander folgen sieht: „Jugend ist an sich schon etwas Fälschendes und Betrüge-
risches. Später, wenn die junge Seele, durch lauter Enttäuschungen gemartert,
sich endlich argwöhnisch gegen sich selbst zurück wendet, immer noch heiss
und wild, auch in ihrem Argwohne und Gewissensbisse: wie zürnt sie sich
nunmehr, wie zerreisst sie sich ungeduldig, wie nimmt sie Rache für ihre lange
Selbst-Verblendung, wie als ob sie eine willkürliche Blindheit gewesen sei! In
diesem Übergange bestraft man sich selber, durch Misstrauen gegen sein Ge-
fühl; man foltert seine Begeisterung durch den Zweifel, [...] man nimmt Partei,
grundsätzlich Partei gegen ,die Jugend'. - Ein Jahrzehend später: und man
begreift, dass auch dies Alles noch - Jugend war!" (KSA 5, 49, 25 - 50, 7). -
Diese abstrakte Analyse eines reaktiven Ressentiments, dessen Radikalität als
genaue Inversion des früheren Enthusiasmus erscheint, kann man konkret auf
N.s eigene Abkehr von Schopenhauer und Wagner beziehen und insofern auch
als implizite Selbstdiagnose verstehen. Aus nachträglicher Distanz zu beiden
emotionalen Extremismen beschreibt er exzentrische Mentalitäten und Ge-
fühlsdispositionen dieser Art gleichermaßen als Symptome jugendlicher Unrei-
fe und fehlender Differenzierungsfähigkeit: „Man verehrt und verachtet in jun-
gen Jahren noch ohne jene Kunst der Nuance, welche den besten Gewinn des
Lebens ausmacht" (KSA 5, 49, 14-16).
Zwar ist von UB III SE und UB IV WB hier nicht explizit die Rede; die impli-
ziten Bezüge sind aber an markanten Übereinstimmungen mit dem Nachlass-
 
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