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Neymeyr, Barbara; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Mitarb.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 1,4): Kommentar zu Nietzsches "Unzeitgemässen Betrachtungen": III. Schopenhauer als Erzieher, IV. Richard Wagner in Bayreuth — Berlin, Boston: de Gruyter, 2020

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https://doi.org/10.11588/diglit.69928#0384
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Überblickskommentar, Kapitel IV.6: Selbstaussagen Nietzsches 357

Perspektivischen verbindet N. beim Rückblick auf die beiden früheren Schrif-
ten mit einer Relativierung früherer Einschätzungen, indem er die Bedeutung
eines altersspezifischen Enthusiasmus hervorhebt. Dabei schreibt er der Fähig-
keit zu idealisierender Vergrößerung allerdings einen Eigenwert zu, der sich
nicht nach dem jeweiligen Realitätsgehalt bemisst. Und indem N. UB III SE und
UB IV WB sogar als „Gemälde" charakterisiert, denen idealistische Visionen
zugrunde liegen, bringt er sie mit der Vorstellung künstlerischer Produktivität
in Verbindung und entwertet das Kriterium der Objektivität als relevanten
Maßstab dadurch noch zusätzlich. Auf Adäquatheit der Darstellung scheint es
kaum noch anzukommen, wenn ,Wahrheit' primär im Auge des Betrachters
liegt.
In einem weiteren Notat von 1885 deutet N. UB III SE und UB IV WB nach-
träglich sogar instrumentell, und zwar als Mittel zum Zweck intersubjektiver
Vermittlung und kommunikativer Vernetzung. Dabei sieht er andere Kriterien
wirksam als einen Anspruch auf objektivierende Zeitkritik und Kulturdiagnose:
„Meine vier ersten U<nzeitgemäßen B<etrachtungen> [...] waren Versuche, die
Art Menschen an mich heranzulocken, welche zu mir gehören: also Angelru-
then, ausgeworfen nach ,Meines-Gleichen'. Damals war ich jung genug, um
mit ungeduldiger Hoffnung auf solchen Fischfang zu gehen" (NL 1885, 35 [48],
KSA 11, 535). Die kulturreformatorische Intention auf Überwindung zeitgenös-
sischer Krisensymptome scheint hier hinter dem subjektiven Motiv zurückzu-
treten.
Ein emotionales Bedürfnis, enthusiastisch zu verehren, zu bewundern und
zu idealisieren, gesteht N. zuvor bereits in einem Notat von 1884. Zugleich be-
tont er den Wert einer solchen Tendenz zur Glorifizierung persönlicher Vorbild-
figuren für die eigene mentale Entwicklung, den selbst die nachträgliche Desil-
lusionierung nicht zerstört. So tituliert er sich selbstironisch als „Maler", der
„einmal ein Bild von Richard Wagner gemalt" hat, nämlich UB IV WB: „Einige
Jahre später sagte ich mir: ,Teufel! es ist gar nicht ähnlich'. Noch ein paar Jahre
später antwortete ich ,um so besser! um so besser!' - In gewissen Jahren des
Lebens hat man ein Recht, Dinge und Menschen falsch zu sehen, - Vergröße-
rungsgläser, welche die Hoffnung uns giebt. / Als ich 21 Jahre alt war, war
ich vielleicht der einzige Mensch in Deutschland, der diese Zwei, der zugleich
Richard Wagner und Schopenhauer mit Einer Begeisterung liebte" (NL 1884,
26 [406], KSA 11, 257-258). - Den Primat der Persönlichkeit Schopenhauers und
Wagners vor ihren Leistungen behauptet N. auch in einem Nachlass-Notat von
1880/81, in dem er retrospektiv feststellt: „Als ich Schopenhauer gleich mei-
nem Erzieher feierte hatte ich vergessen, daß bereits seit langem keines seiner
Dogmen meinem Mißtrauen Stand gehalten hatte [...]. Als ich später Richard
Wagner meine Verehrung bei einem festlichen Anlaß darbrachte, hatte ich wie-
 
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