Stellenkommentar UB IV WB 1, KSA 1, S. 432 369
mässe Typen par excellence" dargestellt (KSA 6, 316, 22 - 317, 2). - Für seine
Unzeitgemässen Betrachtungen wertet N. den negativen Begriff des ,Unzeitge-
mäßen' um, der ja eigentlich das für die jeweils relevante historische Epoche
nicht (mehr) Angemessene, da Obsolete bezeichnet. N. meint mit ,unzeitge-
mäß' allerdings keineswegs das Veraltete, sondern verbindet mit seinen kriti-
schen Gegenwartsdiagnosen Perspektiven auf die Zukunft, die gerade das Zeit-
gemäße als das Negative erscheinen lassen, das der Überwindung bedarf. In
diesem Sinne akzentuiert N. den Begriff des ,Unzeitgemäßen' prinzipiell posi-
tiv, um ihn dann für Personen und Konzepte in Anspruch zu nehmen, die
konstruktiv über die Gegenwart hinausweisen. In UB III SE und UB IV WB
beschreibt er Schopenhauer und Wagner als ,unzeitgemäße' Persönlichkeiten,
weil sie sich auf paradigmatische Weise von konventionellen Normen emanzi-
piert und die Beschränkungen ihrer Epoche überwunden haben.
Über Schopenhauer und Wagner hinaus sieht N. das große Individuum
prinzipiell in einem antagonistischen Verhältnis zur eigenen Zeit. Mit dieser
Einschätzung, die auch seinem Selbstverständnis entspricht, verbindet er vor
dem Hintergrund seiner kritischen Epochendiagnose einen missionarischen
Anspruch auf die Neugestaltung der Kultur. In diesem Sinne formuliert N. in
einem Brief an Carl von Gersdorff am 4. Februar 1872 das Plädoyer: „Was Du
auch thun magst - denke daran dass wir beide mit berufen sind, an einer
Culturbewegung unter den Ersten zu kämpfen und zu arbeiten, welche viel-
leicht in der nächsten Generation, vielleicht noch später der grössern Masse
sich mittheilt" (KSB 3, Nr. 197, S. 286). Vgl. auch NK 480, 22-24 und NK 484,
2-8. Inwiefern dieser Gestus bereits sein Frühwerk bestimmt, zeigt schon die
markante Schlusspassage von UB I DS, in der N. die Überwindung der Denk-
konventionen als ein wesentliches Charakteristikum des ,Unzeitgemäßen'
exponiert. Nachdem er dort (mit der kulturkritisch grundierten Polemik gegen
Strauß) sein eigenes ,unzeitgemäßes' „Bekenntniss abgelegt" hat (KSA 1, 241,
34), ermutigt er die Gleichgesinnten angesichts der gegenwärtigen Epochen-
problematik: „So lange nämlich das noch als unzeitgemäss gilt, was immer an
der Zeit war und jetzt mehr als je an der Zeit ist und Noth thut - die Wahrheit
zu sagen" (KSA 1, 242, 9-11). Indem N. mit der mehrdeutigen Formulierung
„was [...] an der Zeit ist" spielt, rückt er einerseits das Aktuelle oder Zeitgemäße
und andererseits das dringend Gebotene, da Notwendige ins Blickfeld und
schafft so ein Spannungsfeld mit changierenden Bedeutungsvaleurs, in dem
der letztere Aspekt dominiert. Zugleich bringt N. seinen Vorbehalt gegenüber
einer Common-sense-Perspektive auf das ,Unzeitgemäße' zum Ausdruck, wenn
er das, was „als unzeitgemäss gilt", implizit relativiert und die Bedeutung ei-
nes ,unzeitgemäßen' Wahrheitsethos betont.
Wie sehr N.s Ideal der ,Unzeitgemäßheit' (vgl. auch KSA 1, 346, 13; 361, 9-
14) von Schopenhauer geprägt ist, zeigen etliche Beispiele aus dessen CEuvre
mässe Typen par excellence" dargestellt (KSA 6, 316, 22 - 317, 2). - Für seine
Unzeitgemässen Betrachtungen wertet N. den negativen Begriff des ,Unzeitge-
mäßen' um, der ja eigentlich das für die jeweils relevante historische Epoche
nicht (mehr) Angemessene, da Obsolete bezeichnet. N. meint mit ,unzeitge-
mäß' allerdings keineswegs das Veraltete, sondern verbindet mit seinen kriti-
schen Gegenwartsdiagnosen Perspektiven auf die Zukunft, die gerade das Zeit-
gemäße als das Negative erscheinen lassen, das der Überwindung bedarf. In
diesem Sinne akzentuiert N. den Begriff des ,Unzeitgemäßen' prinzipiell posi-
tiv, um ihn dann für Personen und Konzepte in Anspruch zu nehmen, die
konstruktiv über die Gegenwart hinausweisen. In UB III SE und UB IV WB
beschreibt er Schopenhauer und Wagner als ,unzeitgemäße' Persönlichkeiten,
weil sie sich auf paradigmatische Weise von konventionellen Normen emanzi-
piert und die Beschränkungen ihrer Epoche überwunden haben.
Über Schopenhauer und Wagner hinaus sieht N. das große Individuum
prinzipiell in einem antagonistischen Verhältnis zur eigenen Zeit. Mit dieser
Einschätzung, die auch seinem Selbstverständnis entspricht, verbindet er vor
dem Hintergrund seiner kritischen Epochendiagnose einen missionarischen
Anspruch auf die Neugestaltung der Kultur. In diesem Sinne formuliert N. in
einem Brief an Carl von Gersdorff am 4. Februar 1872 das Plädoyer: „Was Du
auch thun magst - denke daran dass wir beide mit berufen sind, an einer
Culturbewegung unter den Ersten zu kämpfen und zu arbeiten, welche viel-
leicht in der nächsten Generation, vielleicht noch später der grössern Masse
sich mittheilt" (KSB 3, Nr. 197, S. 286). Vgl. auch NK 480, 22-24 und NK 484,
2-8. Inwiefern dieser Gestus bereits sein Frühwerk bestimmt, zeigt schon die
markante Schlusspassage von UB I DS, in der N. die Überwindung der Denk-
konventionen als ein wesentliches Charakteristikum des ,Unzeitgemäßen'
exponiert. Nachdem er dort (mit der kulturkritisch grundierten Polemik gegen
Strauß) sein eigenes ,unzeitgemäßes' „Bekenntniss abgelegt" hat (KSA 1, 241,
34), ermutigt er die Gleichgesinnten angesichts der gegenwärtigen Epochen-
problematik: „So lange nämlich das noch als unzeitgemäss gilt, was immer an
der Zeit war und jetzt mehr als je an der Zeit ist und Noth thut - die Wahrheit
zu sagen" (KSA 1, 242, 9-11). Indem N. mit der mehrdeutigen Formulierung
„was [...] an der Zeit ist" spielt, rückt er einerseits das Aktuelle oder Zeitgemäße
und andererseits das dringend Gebotene, da Notwendige ins Blickfeld und
schafft so ein Spannungsfeld mit changierenden Bedeutungsvaleurs, in dem
der letztere Aspekt dominiert. Zugleich bringt N. seinen Vorbehalt gegenüber
einer Common-sense-Perspektive auf das ,Unzeitgemäße' zum Ausdruck, wenn
er das, was „als unzeitgemäss gilt", implizit relativiert und die Bedeutung ei-
nes ,unzeitgemäßen' Wahrheitsethos betont.
Wie sehr N.s Ideal der ,Unzeitgemäßheit' (vgl. auch KSA 1, 346, 13; 361, 9-
14) von Schopenhauer geprägt ist, zeigen etliche Beispiele aus dessen CEuvre