384 Richard Wagner in Bayreuth
Richard Wagner selbst erklärt in seinem Text Eine Mittheilung an meine
Freunde: „Ich war mit der Konzeption des ,Siegfried' bis dahin vorgedrungen,
wo ich den Menschen in der natürlichsten, heitersten Fülle seiner sinnlich be-
lebten Kundgebung vor mir sah; kein historisches Gewand engte ihn mehr ein;
kein außer ihm entstandenes Verhältniß hemmte ihn irgendwie in seiner Bewe-
gung, die aus dem innersten Quelle seiner Lebenslust jeder Begegnung gegen-
über sich so bestimmte, daß Irrthum und Verwirrung, aus dem wildesten Spiele
der Leidenschaften genährt, rings um ihn bis zu seinem offenbaren Verderben
sich häufen konnten, ohne daß der Held einen Augenblick, selbst dem Tode
gegenüber, den inneren Quell in seinem wellenden Ergüsse nach Außen ge-
hemmt, oder je etwas Anderes für berechtigt über sich und seine Bewegung
gehalten hätte, als eben die nothwendige Ausströmung des rastlos quillenden
inneren Lebensbrunnens. Mich hatte ,Elsa' diesen Mann finden gelehrt: er war
mir der männlich verkörperte Geist der ewig und einzig zeugenden Unwillkür,
des Wirkers wirklicher Thaten, des Menschen in der Fülle höchster, unmit-
telbarster Kraft und zweifellosester Liebenswürdigkeit" (GSD IV, 328).
Dass N. in UB IV WB im Anschluss an Wagners Konzeption einer autono-
men und heroischen Siegfried-Figur mit dem Helden Siegfried geradezu leitmo-
tivisch die Idealvorstellung eines freien Menschen der Zukunft verbindet, er-
hellt beispielsweise aus der appellativen Frage: „Wo sind [...] die Freien,
Furchtlosen, in unschuldiger Selbstigkeit aus sich Wachsenden und Blühen-
den, die Siegfriede unter euch?" (509, 26-31). Indem N. den ,freien Menschen'
als den jenseits aller entfremdenden Konventionen Lebenden beschreibt,
schließt er an Grundkonstellationen von Wagners Siegfried-Oper an (vgl.
NK 508, 29-33 und NK 508, 33 - 509, 5). Hier wird Siegfried, der dem ehebre-
cherischen Inzest von Siegmund und Sieglinde entstammt, als der freie Mensch
inszeniert, der letztlich gerade deshalb dazu imstande ist, die Problematik kon-
ventioneller Machtverhältnisse zu überwinden: „der freie furchtlose Mensch
erscheint, er ist im Widerspruche gegen alles Herkommen entstanden; seine
Erzeuger büssen es [...], aber Siegfried lebt" (508, 29-33).
Etwa ein Jahrzehnt nach seiner Distanzierung von Wagner verbindet N.
auch in Jenseits von Gut und Böse das Freiheitsmotiv mit Wagners Siegfried-
Figur, die er zugleich als unkonventionellen Gegenentwurf zur zeitgenössi-
schen Decadence charakterisiert: „[...] vielleicht ist sogar das Merkwürdigste,
was Richard Wagner geschaffen hat, der ganzen so späten lateinischen Rasse
für immer und nicht nur für heute unzugänglich, unnachfühlbar, unnachahm-
bar: die Gestalt des Siegfried, jenes sehr freien Menschen, der in der That
bei weitem zu frei, zu hart, zu wohlgemuth, zu gesund, zu antikatholisch
für den Geschmack alter und mürber Culturvölker sein mag. Er mag sogar eine
Sünde wider die Romantik gewesen sein, dieser antiromantische Siegfried"
(KSA 5, 203, 33 - 204, 7).
Richard Wagner selbst erklärt in seinem Text Eine Mittheilung an meine
Freunde: „Ich war mit der Konzeption des ,Siegfried' bis dahin vorgedrungen,
wo ich den Menschen in der natürlichsten, heitersten Fülle seiner sinnlich be-
lebten Kundgebung vor mir sah; kein historisches Gewand engte ihn mehr ein;
kein außer ihm entstandenes Verhältniß hemmte ihn irgendwie in seiner Bewe-
gung, die aus dem innersten Quelle seiner Lebenslust jeder Begegnung gegen-
über sich so bestimmte, daß Irrthum und Verwirrung, aus dem wildesten Spiele
der Leidenschaften genährt, rings um ihn bis zu seinem offenbaren Verderben
sich häufen konnten, ohne daß der Held einen Augenblick, selbst dem Tode
gegenüber, den inneren Quell in seinem wellenden Ergüsse nach Außen ge-
hemmt, oder je etwas Anderes für berechtigt über sich und seine Bewegung
gehalten hätte, als eben die nothwendige Ausströmung des rastlos quillenden
inneren Lebensbrunnens. Mich hatte ,Elsa' diesen Mann finden gelehrt: er war
mir der männlich verkörperte Geist der ewig und einzig zeugenden Unwillkür,
des Wirkers wirklicher Thaten, des Menschen in der Fülle höchster, unmit-
telbarster Kraft und zweifellosester Liebenswürdigkeit" (GSD IV, 328).
Dass N. in UB IV WB im Anschluss an Wagners Konzeption einer autono-
men und heroischen Siegfried-Figur mit dem Helden Siegfried geradezu leitmo-
tivisch die Idealvorstellung eines freien Menschen der Zukunft verbindet, er-
hellt beispielsweise aus der appellativen Frage: „Wo sind [...] die Freien,
Furchtlosen, in unschuldiger Selbstigkeit aus sich Wachsenden und Blühen-
den, die Siegfriede unter euch?" (509, 26-31). Indem N. den ,freien Menschen'
als den jenseits aller entfremdenden Konventionen Lebenden beschreibt,
schließt er an Grundkonstellationen von Wagners Siegfried-Oper an (vgl.
NK 508, 29-33 und NK 508, 33 - 509, 5). Hier wird Siegfried, der dem ehebre-
cherischen Inzest von Siegmund und Sieglinde entstammt, als der freie Mensch
inszeniert, der letztlich gerade deshalb dazu imstande ist, die Problematik kon-
ventioneller Machtverhältnisse zu überwinden: „der freie furchtlose Mensch
erscheint, er ist im Widerspruche gegen alles Herkommen entstanden; seine
Erzeuger büssen es [...], aber Siegfried lebt" (508, 29-33).
Etwa ein Jahrzehnt nach seiner Distanzierung von Wagner verbindet N.
auch in Jenseits von Gut und Böse das Freiheitsmotiv mit Wagners Siegfried-
Figur, die er zugleich als unkonventionellen Gegenentwurf zur zeitgenössi-
schen Decadence charakterisiert: „[...] vielleicht ist sogar das Merkwürdigste,
was Richard Wagner geschaffen hat, der ganzen so späten lateinischen Rasse
für immer und nicht nur für heute unzugänglich, unnachfühlbar, unnachahm-
bar: die Gestalt des Siegfried, jenes sehr freien Menschen, der in der That
bei weitem zu frei, zu hart, zu wohlgemuth, zu gesund, zu antikatholisch
für den Geschmack alter und mürber Culturvölker sein mag. Er mag sogar eine
Sünde wider die Romantik gewesen sein, dieser antiromantische Siegfried"
(KSA 5, 203, 33 - 204, 7).