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Neymeyr, Barbara; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Contr.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 1,4): Kommentar zu Nietzsches "Unzeitgemässen Betrachtungen": III. Schopenhauer als Erzieher, IV. Richard Wagner in Bayreuth — Berlin, Boston: de Gruyter, 2020

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https://doi.org/10.11588/diglit.69928#0440
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Stellenkommentar UB IV WB 4, KSA 1, S. 446 413

struktion von Lücken in der historischen Überlieferung, grenzt sich allerdings
entschieden vom exzessiven Gebrauch eines analogisch-spekulativen Verfah-
rens ab, wie es etwa Herders Ideen zur Philosophie der Geschichte der Mensch-
heit kennzeichnet. So erklärt Kant dezidiert: „Allein eine Geschichte ganz und
gar aus Muthmaßungen entstehen zu lassen, scheint nicht viel besser, als
den Entwurf zu einem Roman zu machen. Auch würde sie nicht den Namen
einer muthmaßlichen Geschichte, sondern einer bloßen Erdichtung
führen können" (AA 8, 109). Damit antizipiert Kant eine Problemkonstellation,
die in N.s Historienschrift 88 Jahre später tatsächlich festzustellen ist. Vgl. dazu
die Ausführungen in Kapitel II.9 des Überblickskommentars zu UB II HL.
446, 23-25 zwischen Kant und den Eleaten, zwischen Schopenhauer und Empe-
dokles, zwischen Aeschylus und Richard Wagner solche Nähen und Verwandt-
schaften] Die Suche nach Analogien zwischen der Antike und der Moderne hat
für N.s Denken strukturbildende Bedeutung. Hier betont er solche Übereinstim-
mungen, indem er exemplarisch sechs Vertreter der abendländischen Kultur in
ein Korrespondenzverhältnis setzt. Auf diese Weise bildet er drei ,Paare' aus
wichtigen Repräsentanten der Philosophie und Kunst.
Erstens korreliert N. Kant mit den Eleaten. Die vorsokratische griechische
Philosophenschule der Eleaten (ca. 580-430 v. Chr.), deren wichtigster Vertre-
ter Parmenides ist, wurde nach dem Ort Elea in Unteritalien benannt. Die Elea-
ten vertreten eine monistische Philosophie und behaupten ein unvergängli-
ches Sein. Da sie bereits von der Unzuverlässigkeit der Sinneseindrücke
ausgehen, analogisiert N. ihre Position mit der transzendentalphilosophischen
Erkenntnistheorie Kants. Denn die Differenzierung zwischen dem Ding an sich
und der sinnlich wahrnehmbaren Erscheinung, die Kant in seiner Kritik der
reinen Vernunft vornimmt (vgl. z. B. die 2. Auflage der Kritik der reinen Vernunft
von 1787: B XX), weist im Grundansatz Übereinstimmungen mit der von den
Eleaten vollzogenen Unterscheidung zwischen dem Sein und der vergängli-
chen Erscheinung auf. Allerdings lässt die Lehre der Eleaten, die ein unver-
gängliches Sein statuieren, zugleich auch eine Affinität zu Prämissen der
späteren Platonischen Ideenlehre erkennen, mit der die transzendentalphiloso-
phischen Konzepte Kants nicht kompatibel sind.
In der nachgelassenen Schrift Die Philosophie im tragischen Zeitalter der
Griechen erklärt N.: „In der Philosophie des Parmenides präludirt das Thema
der Ontologie. Die Erfahrung bot ihm nirgends ein Sein, wie er es sich dachte,
aber daraus, daß er es denken konnte, erschloß er, daß es existiren müsse: ein
Schluß, der auf der Voraussetzung beruht, daß wir ein Organ der Erkenntniß
haben, das in's Wesen der Dinge reicht und unabhängig von der Erfahrung ist.
Der Stoff unseres Denkens ist nach Parmenides gar nicht in der Anschauung
vorhanden, sondern wird anderswoher hinzugebracht, aus einer außersinnli-
 
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