Stellenkommentar UB IV WB 4, KSA 1, S. 446-447 415
indischen Philosophie entlehnte. In der Geburt der Tragödie (KSA 1, 28, 10-
31) zitiert N. ausführlich aus Schopenhauers Welt als Wille und Vorstellung I
(WWV I, § 63, Hü 416-417) und übernimmt von ihm auch die markante Meta-
phorik, wenn er das „Zerbrechen des principii individuationis" mit der Imagi-
nation verbindet, dass „der Schleier der Maja zerrissen" sei (KSA 1, 29, 34).
Schopenhauer bezeichnet mit dem „Schleier der Maja" das Täuschende der
Erscheinungssphäre, das er auf das principium individuationis zurückführt
und zugleich vom Willen als dem Urgrund alles Seienden abgrenzt. So erklärt
Schopenhauer in der Welt als Wille und Vorstellung I: „den Blick des rohen
Individuums trübt, wie die Inder sagen, der Schleier der Maja: ihm zeigt sich,
statt des Dinges an sich, nur die Erscheinung, in Zeit und Raum, dem principio
individuationis, und in den übrigen Gestaltungen des Satzes vom Grunde: und
in dieser Form seiner beschränkten Erkenntniß sieht er nicht das Wesen der
Dinge, welches Eines ist, sondern dessen Erscheinungen, als gesondert, ge-
trennt, unzählbar, sehr verschieden, ja entgegengesetzt. [...] Er sieht das Uebel,
er sieht das Böse in der Welt: aber weit entfernt zu erkennen, daß Beide nur
verschiedene Seiten der Erscheinung des einen Willens zum Leben sind, hält
er sie für sehr verschieden, ja ganz entgegengesetzt, und sucht oft durch das
Böse, d. h. durch Verursachung des fremden Leidens, dem Uebel, dem Leiden
des eigenen Individuums, zu entgehn, befangen im principio individuationis,
getäuscht durch den Schleier der Maja" (WWV I, § 63, Hü 416).
Nach Schopenhauers Auffassung vermögen nur wenige Menschen, „geläu-
tert [...] durch das Leiden selbst", bis zu dem Punkt der Erkenntnis zu gelan-
gen, „wo die Erscheinung, der Schleier der Maja, sie nicht mehr täuscht, die
Form der Erscheinung, das principium individuationis, von ihr durchschaut
wird, der auf diesem beruhende Egoismus eben damit erstirbt, wodurch nun-
mehr die vorhin so gewaltigen Motive ihre Macht verlieren, und statt ihrer
die vollkommene Erkenntniß des Wesens der Welt, als Quietiv des Willens
wirkend, die Resignation herbeiführt, das Aufgeben, nicht bloß des Lebens,
sondern des ganzen Willens zum Leben" (WWV I, § 51, Hü 299). „Von diesem
Wahn und Blendwerk der Maja geheilt seyn, und Werke der Liebe üben, ist
Eins. Letzteres ist aber unausbleibliches Symptom jener Erkenntniß" (WWV I,
§ 66, Hü 441).
447, 9-10 dämmert in blassen Zügen wieder das Bild des Hellenischen] In der
Überzeugung von der Vorbildfunktion der griechischen Kunst für die künftige
Kunst stimmt N. mit Richard Wagner überein, der in seinem Aufsatz Das Kunst-
werk der Zukunft (1849) erklärt: „So haben wir denn die hellenische Kunst
zur menschlichen Kunst überhaupt zu machen; die Bedingungen, unter
denen sie eben nur hellenische, nicht allmenschliche Kunst war, von
ihr zu lösen" (GSD III, 62). - Diese ästhetische Programmatik weist gewisse
indischen Philosophie entlehnte. In der Geburt der Tragödie (KSA 1, 28, 10-
31) zitiert N. ausführlich aus Schopenhauers Welt als Wille und Vorstellung I
(WWV I, § 63, Hü 416-417) und übernimmt von ihm auch die markante Meta-
phorik, wenn er das „Zerbrechen des principii individuationis" mit der Imagi-
nation verbindet, dass „der Schleier der Maja zerrissen" sei (KSA 1, 29, 34).
Schopenhauer bezeichnet mit dem „Schleier der Maja" das Täuschende der
Erscheinungssphäre, das er auf das principium individuationis zurückführt
und zugleich vom Willen als dem Urgrund alles Seienden abgrenzt. So erklärt
Schopenhauer in der Welt als Wille und Vorstellung I: „den Blick des rohen
Individuums trübt, wie die Inder sagen, der Schleier der Maja: ihm zeigt sich,
statt des Dinges an sich, nur die Erscheinung, in Zeit und Raum, dem principio
individuationis, und in den übrigen Gestaltungen des Satzes vom Grunde: und
in dieser Form seiner beschränkten Erkenntniß sieht er nicht das Wesen der
Dinge, welches Eines ist, sondern dessen Erscheinungen, als gesondert, ge-
trennt, unzählbar, sehr verschieden, ja entgegengesetzt. [...] Er sieht das Uebel,
er sieht das Böse in der Welt: aber weit entfernt zu erkennen, daß Beide nur
verschiedene Seiten der Erscheinung des einen Willens zum Leben sind, hält
er sie für sehr verschieden, ja ganz entgegengesetzt, und sucht oft durch das
Böse, d. h. durch Verursachung des fremden Leidens, dem Uebel, dem Leiden
des eigenen Individuums, zu entgehn, befangen im principio individuationis,
getäuscht durch den Schleier der Maja" (WWV I, § 63, Hü 416).
Nach Schopenhauers Auffassung vermögen nur wenige Menschen, „geläu-
tert [...] durch das Leiden selbst", bis zu dem Punkt der Erkenntnis zu gelan-
gen, „wo die Erscheinung, der Schleier der Maja, sie nicht mehr täuscht, die
Form der Erscheinung, das principium individuationis, von ihr durchschaut
wird, der auf diesem beruhende Egoismus eben damit erstirbt, wodurch nun-
mehr die vorhin so gewaltigen Motive ihre Macht verlieren, und statt ihrer
die vollkommene Erkenntniß des Wesens der Welt, als Quietiv des Willens
wirkend, die Resignation herbeiführt, das Aufgeben, nicht bloß des Lebens,
sondern des ganzen Willens zum Leben" (WWV I, § 51, Hü 299). „Von diesem
Wahn und Blendwerk der Maja geheilt seyn, und Werke der Liebe üben, ist
Eins. Letzteres ist aber unausbleibliches Symptom jener Erkenntniß" (WWV I,
§ 66, Hü 441).
447, 9-10 dämmert in blassen Zügen wieder das Bild des Hellenischen] In der
Überzeugung von der Vorbildfunktion der griechischen Kunst für die künftige
Kunst stimmt N. mit Richard Wagner überein, der in seinem Aufsatz Das Kunst-
werk der Zukunft (1849) erklärt: „So haben wir denn die hellenische Kunst
zur menschlichen Kunst überhaupt zu machen; die Bedingungen, unter
denen sie eben nur hellenische, nicht allmenschliche Kunst war, von
ihr zu lösen" (GSD III, 62). - Diese ästhetische Programmatik weist gewisse