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Neymeyr, Barbara; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Mitarb.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 1,4): Kommentar zu Nietzsches "Unzeitgemässen Betrachtungen": III. Schopenhauer als Erzieher, IV. Richard Wagner in Bayreuth — Berlin, Boston: de Gruyter, 2020

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https://doi.org/10.11588/diglit.69928#0443
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416 Richard Wagner in Bayreuth

Analogien zu den Konzepten Winckelmanns auf, der als Begründer des Klassi-
zismus in Deutschland gilt und nachhaltigen Einfluss insbesondere auf die
Weimarer Klassiker Goethe und Schiller, aber auch auf den von N. sehr ge-
schätzten Hölderlin hatte. Winckelmanns Griechenlandbild ist durch einen
utopischen Idealismus gekennzeichnet (vgl. Jochen Schmidt 1992/93, 94-110).
Von der prinzipiellen Vorbildlichkeit der griechischen Kunst der Antike über-
zeugt, propagierte er deren Nachahmung als unabdingbare Voraussetzung für
die Produktion hochrangiger Kunstwerke. Dabei ließ Winckelmann die bilden-
de Kunst der Griechen zum ästhetischen Maßstab auch für spätere Epochen
avancieren, indem er ihr eine universelle Gültigkeit zusprach.
Richard Wagner charakterisiert die griechische Tragödie in seiner Schrift
Die Kunst und die Revolution von 1849 als ein ,Gesamtkunstwerk' (GSD III, 12)
und beschreibt die soziokulturelle Entwicklung nach der Epoche der Antike so:
Mit dem Zerfall des ,Gemeingeistes' in lauter egoistische Partikularinteressen
„löste sich auch das große Gesamtkunstwerk der Tragödie in die einzelnen ihm
inbegriffenen Kunstbestandteile auf" (ebd.). Von einer ,großen Menschheitsre-
volution' erhofft Wagner außer einer Verbesserung der gesellschaftlichen Situ-
ation zugleich auch, dass der Öffentlichkeitscharakter der Kunst restituiert und
dadurch eine Wiedergeburt' des Gesamtkunstwerks ermöglicht wird (GSD III,
29). Mit Wagners gesellschaftlicher Utopie korrespondiert insofern eine ästheti-
sche: In der Wiedervereinigung der Einzelkünste im ,Kunstwerk der Zukunft'
soll sich idealiter die Einheit einer ,brüderlichen Menschheit' abbilden (GSD
III, 33). Dass sich Wagner zwar an geschichtsphilosophischen Entwürfen des
Deutschen Idealismus orientiert, deren Griechenland-Mythos aber nicht über-
nimmt, zeigt seine Aussage: „Etwas ganz Anderes haben wir daher zu schaffen,
als etwa eben nur das Griechenthum wieder herzustellen; gar wohl ist die thö-
rige Restauration eines Scheingriechenthums im Kunstwerke versucht worden
[...] Nein, wir wollen nicht wieder Griechen werden" (GSD III, 30).
Implizit macht Wagners Bekenntnis trotz gewisser Analogien zugleich
auch seine Distanz zu Konzepten Winckelmanns evident, der die Nachahmung
griechischer Kunst als obligatorisch auch für spätere Epochen betrachtet (vgl.
zur philosophischen Grundierung Neymeyr 2017, 213-240). - N. selbst stand
einem von Winckelmann ausgehenden undialektischen Verständnis der grie-
chischen „Heiterkeit" skeptisch gegenüber (vgl. den Kommentar zu 480, 2-9).
In einem nachgelassenen Notat von 1887/88 formuliert N. später die ambiva-
lente Einschätzung: „Winckelmanns und Goethes Griechen [...] irgend wann
wird man die ganze Komödie entdecken: es war Alles über alle Maaßen histo-
risch falsch, aber - modern, wahr!" (NL 1887/88, 11 [330], KSA 13, 140).
447, 11-12 Die Erde, die bisher zur Genüge orientalisirt worden ist] N. bringt
seine Vorbehalte gegenüber einer Orientalisierung des Okzidents in seiner
 
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