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Neymeyr, Barbara; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Contr.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 1,4): Kommentar zu Nietzsches "Unzeitgemässen Betrachtungen": III. Schopenhauer als Erzieher, IV. Richard Wagner in Bayreuth — Berlin, Boston: de Gruyter, 2020

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https://doi.org/10.11588/diglit.69928#0444
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Stellenkommentar UB IV WB 4, KSA 1, S. 447 417

Schrift Menschliches, Allzumenschliches deutlich zum Ausdruck, wenn er er-
klärt: „in den dunkelsten Zeiten des Mittelalters, als sich die asiatische Wol-
kenschicht schwer über Europa gelagert hatte, waren es jüdische Freidenker,
Gelehrte und Aerzte, welche das Banner der Aufklärung und der geistigen Un-
abhängigkeit unter dem härtesten persönlichen Zwange festhielten und Europa
gegen Asien vertheidigten; ihren Bemühungen ist es nicht am wenigsten zu
danken, dass eine natürlichere, vernunftgemässere und jedenfalls unmythi-
sche Erklärung der Welt endlich wieder zum Siege kommen konnte und dass
der Ring der Cultur, welcher uns jetzt mit der Aufklärung des griechisch-römi-
schen Alterthums zusammenknüpft, unzerbrochen blieb. Wenn das Christen-
thum Alles gethan hat, um den Occident zu orientalisiren, so hat das Juden-
thum wesentlich mit dabei geholfen, ihn immer wieder zu occidentalisiren:
was in einem bestimmten Sinne so viel heisst als Europa's Aufgabe und Ge-
schichte zu einer Fortsetzung der griechischen zu machen" (KSA 2,
310, 23 - 311, 5). Bereits in der Geburt der Tragödie wertet N. die orientalischen
Kulte gegenüber den griechischen entschieden ab. Vgl. dazu KSA 1, 32, 29 -
34, 27.
447, 12-14 wer ihr hier helfen will, der hat freilich Schnelligkeit und einen geflü-
gelten Fuss von Nöthen] Hier spielt N. auf den Gott Hermes an, der in der grie-
chischen Mythologie als Götterbote und Seelengeleiter sowie als Gott der Wan-
derer, Kaufleute und Diebe fungiert. Der antiken Mythologie zufolge sind für
Hermes vor allem die geflügelten Schuhe als Attribut charakteristisch. - Im
vorliegenden Kontext spricht N. von der Sehnsucht der „zur Genüge orientali-
sirt[en]" Erde nach erneuter „Hellenisirung" (447, 11-12). Indem er für die
Unterstützung bei einem solchen Prozess Rahmenbedingungen postuliert, die
auf den Hermes-Mythos und damit auf eine übermenschliche Sphäre verwei-
sen, rückt er sie tendenziell in einen utopischen Horizont.
447, 17-18 So ist denn jetzt eine Reihe von Gegen-Alexandern nöthig ge-
worden] Nach N.s Überzeugung bedarf es in der zeitgenössischen Epoche, für
die eine wachsende Komplexität und die Tendenz zu „unendlicher Zerstreu-
ung" (447, 6-7) griechischer Kultureinflüsse charakteristisch sind, einer Gegen-
bewegung. Angesichts der vielfältigen Formen von Diffusion hält er es für not-
wendig, die Kultur der Gegenwart durch Reduktion und Vereinfachung zu
stärken. Die „Aufgabe" der benötigten „Gegen-Alexander" (447, 25-26) sieht N.
in einer inversen Bewegung zum Zerschlagen des „gordischen Knoten[s] der
griechischen Cultur" (447, 21-22) durch Alexander den Großen: nämlich im Zu-
sammenführen und in der Konzentration divergenter kultureller Strömungen.
Wagner erscheint ihm in diesem Sinne als ein paradigmatischer „Gegen-Ale-
xander".
 
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