418 Richard Wagner in Bayreuth
447, 21-24 Nicht den gordischen Knoten der griechischen Cultur zu lösen, [...]
sondern ihn zu binden] Alexander der Große eroberte im Winter 334/333
v. Chr. Anatolien. Wie der griechische Historiker Arrian, also Lucius Flavius
Arrianos (ca. 86-160 n. Chr.), in seinem Werk über Alexanders Zug nach Asien
(ÄÄ£@vöpov dvdßamq) berichtet (2. Buch), soll er in Gordion mit seinem
Schwert einen vom phrygischen König Gordios geflochtenen Knoten, den soge-
nannten ,gordischen Knoten', durchschlagen haben. Zuvor war in einem Ora-
kel prophezeit worden, nur derjenige, der diesen Knoten zu lösen vermöge, sei
dazu imstande, die Herrschaft über Asien zu erringen. Alexander bewältigte
diese Aufgabe gewaltsam, indem er den Knoten mit dem Schwert durch-
schlug. - Mit der anschaulichen Metapher des Bindens intendiert N. eine Um-
kehrung der durch das ,Lösen' des Knotens von Alexander eingeleiteten Diffu-
sion. Gemäß N.s Auffassung sollen die Elemente der hellenischen Kultur
erneut zusammengeführt werden, um einen zivilisatorischen Prozess umzu-
kehren, dessen Resultat er so diagnostiziert: „Der Geist der hellenischen Cultur
liegt in unendlicher Zerstreuung auf unserer Gegenwart" (447, 6-7). Zu Alexan-
der dem Großen vgl. auch NK 434, 28-30.
Welche Bedeutung diese Vorstellung vom ,gordischen Knoten' für N. hatte,
vor allem aber die Imago eines ,Gegen-Alexander', der diesen Knoten nicht
zerschlägt, sondern ihn neu bindet, zeigt eine Textpassage aus seinem Spät-
werk Ecce homo. Dort vollzieht er im Kapitel „Warum ich so gute Bücher schrei-
be" eine radikale Umdeutung der Aussageintention von UB IV WB, indem er
behauptet: „an allen psychologisch entscheidenden Stellen ist nur von mir die
Rede", so dass der Name Wagner in dieser Schrift überall den Namen Nietzsche
oder ,Zarathustra' substituieren müsse (vgl. KSA 6, 314, 3-6). Im Sinne einer
impliziten Selbstcharakterisierung interpretiert N. dann auch das „ganze Bild
des dithyrambischen Künstlers" als „das Bild des präexistenten Dich-
ters des Zarathustra", ohne jeden Bezug zur „Wagnersche[n] Realität" (KSA 6,
314, 7-10). Demzufolge sieht er als ,Gegen-Alexander' in Ecce homo nicht mehr
Wagner an, sondern sich selbst. Insgesamt nimmt er dort für UB IV WB in die-
sem Sinne einen antizipatorischen Charakter und ein zukunftsweisendes Po-
tential in Anspruch: „Es ist Alles an dieser Schrift vorherverkündend: die Nähe
der Wiederkunft des griechischen Geistes, die Nothwendigkeit von Gegen-
Alexandern, welche den gordischen Knoten der griechischen Cultur wieder
binden, nachdem er gelöst war ..." (KSA 6, 314, 26-30). Nachdrücklich erklärt
N., er habe auch in dieser Hinsicht auf Wagner lediglich projiziert, „was ich
bin, [...] die Wahrheit über mich" (KSA 6, 315, 1-2).
447, 28 eine adstringirende Kraft] Eine zusammenziehende Kraft. N. ge-
braucht die medizinische Bezeichnung hier in metaphorischem Sinne.
447, 21-24 Nicht den gordischen Knoten der griechischen Cultur zu lösen, [...]
sondern ihn zu binden] Alexander der Große eroberte im Winter 334/333
v. Chr. Anatolien. Wie der griechische Historiker Arrian, also Lucius Flavius
Arrianos (ca. 86-160 n. Chr.), in seinem Werk über Alexanders Zug nach Asien
(ÄÄ£@vöpov dvdßamq) berichtet (2. Buch), soll er in Gordion mit seinem
Schwert einen vom phrygischen König Gordios geflochtenen Knoten, den soge-
nannten ,gordischen Knoten', durchschlagen haben. Zuvor war in einem Ora-
kel prophezeit worden, nur derjenige, der diesen Knoten zu lösen vermöge, sei
dazu imstande, die Herrschaft über Asien zu erringen. Alexander bewältigte
diese Aufgabe gewaltsam, indem er den Knoten mit dem Schwert durch-
schlug. - Mit der anschaulichen Metapher des Bindens intendiert N. eine Um-
kehrung der durch das ,Lösen' des Knotens von Alexander eingeleiteten Diffu-
sion. Gemäß N.s Auffassung sollen die Elemente der hellenischen Kultur
erneut zusammengeführt werden, um einen zivilisatorischen Prozess umzu-
kehren, dessen Resultat er so diagnostiziert: „Der Geist der hellenischen Cultur
liegt in unendlicher Zerstreuung auf unserer Gegenwart" (447, 6-7). Zu Alexan-
der dem Großen vgl. auch NK 434, 28-30.
Welche Bedeutung diese Vorstellung vom ,gordischen Knoten' für N. hatte,
vor allem aber die Imago eines ,Gegen-Alexander', der diesen Knoten nicht
zerschlägt, sondern ihn neu bindet, zeigt eine Textpassage aus seinem Spät-
werk Ecce homo. Dort vollzieht er im Kapitel „Warum ich so gute Bücher schrei-
be" eine radikale Umdeutung der Aussageintention von UB IV WB, indem er
behauptet: „an allen psychologisch entscheidenden Stellen ist nur von mir die
Rede", so dass der Name Wagner in dieser Schrift überall den Namen Nietzsche
oder ,Zarathustra' substituieren müsse (vgl. KSA 6, 314, 3-6). Im Sinne einer
impliziten Selbstcharakterisierung interpretiert N. dann auch das „ganze Bild
des dithyrambischen Künstlers" als „das Bild des präexistenten Dich-
ters des Zarathustra", ohne jeden Bezug zur „Wagnersche[n] Realität" (KSA 6,
314, 7-10). Demzufolge sieht er als ,Gegen-Alexander' in Ecce homo nicht mehr
Wagner an, sondern sich selbst. Insgesamt nimmt er dort für UB IV WB in die-
sem Sinne einen antizipatorischen Charakter und ein zukunftsweisendes Po-
tential in Anspruch: „Es ist Alles an dieser Schrift vorherverkündend: die Nähe
der Wiederkunft des griechischen Geistes, die Nothwendigkeit von Gegen-
Alexandern, welche den gordischen Knoten der griechischen Cultur wieder
binden, nachdem er gelöst war ..." (KSA 6, 314, 26-30). Nachdrücklich erklärt
N., er habe auch in dieser Hinsicht auf Wagner lediglich projiziert, „was ich
bin, [...] die Wahrheit über mich" (KSA 6, 315, 1-2).
447, 28 eine adstringirende Kraft] Eine zusammenziehende Kraft. N. ge-
braucht die medizinische Bezeichnung hier in metaphorischem Sinne.