Metadaten

Neymeyr, Barbara; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Mitarb.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 1,4): Kommentar zu Nietzsches "Unzeitgemässen Betrachtungen": III. Schopenhauer als Erzieher, IV. Richard Wagner in Bayreuth — Berlin, Boston: de Gruyter, 2020

DOI Seite / Zitierlink: 
https://doi.org/10.11588/diglit.69928#0446
Lizenz: In Copyright
Überblick
Faksimile
0.5
1 cm
facsimile
Vollansicht
OCR-Volltext
Stellenkommentar UB IV WB 4, KSA 1, S. 447-448 419

447, 31 der Gegensatz eines Polyhistors] Anders als ein Universalgelehrter zog
Wagner für seine Opern ein kulturelles Spektrum von beschränkter Reichweite
heran: vor allem Werke aus dem Mittelalter, Themen aus der germanischen
Mythologie und aus der volkstümlichen Tradition. Der Wissensakkumulation
eines Polyhistors, der über Kenntnisse in zahlreichen Disziplinen verfügt, stellt
N. hier die Selektion und Kontraktion kultureller Errungenschaften gegenüber.
Reduktion des thematischen Spektrums, klare Horizontbildung und Vereinfa-
chung betrachtet er als zentrale Charakteristika von Wagners Kunst.
447, 33-34 Beseeler des Zusammengebrachten, ein Vereinfacher der
Welt] In seinen theoretischen Schriften betont Wagner wiederholt, seine Mu-
sik wirke von ,innen' her als ,Seele' der Darstellung und schaffe insofern auch
Einheit und Zusammenhang. N. übernimmt diese Einschätzung und bezeichnet
Wagner in diesem prägnanten Sinne als einen „Beseeler" des Disparaten als
des „Zusammengebrachten". Im 4. Kapitel hebt er die „bewegende und gestal-
tende Seele der Musik" hervor (458, 26-27). Das Defizit von Kunst und Kultur
in der Zivilisation der Gegenwart führt N. auch darauf zurück, dass die „Seele
der Musik" fehle (459, 2). In einem Nachlass-Notat von 1875 reflektiert N. ver-
schiedene Aspekte einer durch Wagner vollzogenen ,Beseelung': So erblickt er
in der „Modifikation des Tempo's" die „Übertragung des Wagnerischen Seelen-
rhythmus auf die Seelen der von ihm geleiteten Musiker; und wie so die Seelen
der Musiker erlöst und ins Hohe verwandelt sind, ist auch wiederum die Seele
der Musik aus dem eisernen Gitterwerk der mathematisch zertheilten Zeit erlöst
und redet nun erst vernehmlich zu uns" (NL 1875, 11 [35], KSA 8, 227).
448, 2 Aufgabe, die sein Genius ihm gestellt hat] Unter dem Einfluss von Scho-
penhauers Genie-Vorstellung kontrastiert N. in seinem Frühwerk wiederholt
den ,Genius' mit der bornierten Masse und betont seine prekäre Stellung in
der Gesellschaft. In diesem Sinne beschreibt er Schopenhauer und Wagner in
UB III SE und UB IV WB als paradigmatische Genies und betrachtet ihre Un-
zeitgemäßheit als Signum ihrer singulären Qualität. In UB III SE macht N.
mehrmals die „Erzeugung des Genius" zum Thema (KSA 1, 358, 12; 386, 21-
22; 387, 13-14). Dass N. Wagner sogar für die Inkarnation des Genies gemäß
Schopenhauers Genie-Begriff hält, zeigen mehrere Briefe, die er teilweise schon
kurz nach seiner ersten Begegnung mit dem Komponisten verfasste. So erklärt
er seinem Freund Erwin Rohde am 9. Dezember 1868 emphatisch: „Wagner,
wie ich ihn jetzt kenne, aus seiner Musik, seinen Dichtungen seiner Aesthetik,
zum nicht geringsten Theile aus jenem glücklichen Zusammensein mit ihm, ist
die leibhaftigste Illustration dessen, was Schopenhauer ein Genie nennt: [...]
wir könnten zusammen den kühnen, ja schwindelnden Gang seiner umstür-
zenden und aufbauenden Aesthetik gehen, wir könnten endlich uns von dem
 
Annotationen
© Heidelberger Akademie der Wissenschaften