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Neymeyr, Barbara; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Mitarb.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 1,4): Kommentar zu Nietzsches "Unzeitgemässen Betrachtungen": III. Schopenhauer als Erzieher, IV. Richard Wagner in Bayreuth — Berlin, Boston: de Gruyter, 2020

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https://doi.org/10.11588/diglit.69928#0456
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Stellenkommentar UB IV WB 4, KSA 1, S. 450 429

„Joch" seiner Basler Professur abzuwerfen, um einen „Bruch mit der bisherigen
Philologie und ihrer Bildungsperspektive" zu vollziehen (KSB 3, Nr. 113,
S. 165) und sich für deutsch-hellenische Kultursynthesen zu engagieren. N.s
Intention, mit gleichgesinnten Freunden „eine neue griechische Akademie"
zu gründen und diese mit dem „Baireuther Plan Wagners" zu verbinden
(KSB 3, Nr. 113, S. 165), signalisiert eine tiefreichende Resignation des philolo-
gischen Gelehrten N., der im eigenen Terrain offenbar keine Perspektive sah,
die Problematik einer statisch-sterilen „Gebildetheit" überwinden und den An-
sprüchen einer genuinen „Bildung" Geltung verschaffen zu können.
Den defizitären Zustand bloßer ,Gebildetheit' erläutert N. in UB I DS so:
„Vieles Wissen und Gelernthaben ist aber weder ein nothwendiges Mittel der
Kultur, noch ein Zeichen derselben und verträgt sich nöthigenfalls auf das bes-
te mit dem Gegensätze der Kultur, der Barbarei, das heisst: der Stillosigkeit
oder dem chaotischen Durcheinander aller Stile" (KSA 1, 163, 4-8). N. sieht
,Bildung' wie ,Kultur' in positivem Sinne durch Homogenität ausgezeichnet,
durch die „Einheit des künstlerischen Stiles in allen Lebensäusserungen eines
Volkes" (KSA 1, 163, 3-4), mithin im Kontrast zur „chaotischen" Melange von
Stilen, die er als charakteristisch betrachtet für die „moderne Jahrmarkts-Bunt-
heit" seiner eigenen Epoche (KSA 1, 163, 22-23). Im fünften seiner bereits im
Frühjahr 1872 gehaltenen nachgelassenen Vorträge Ueber die Zukunft unserer
Bildungsanstalten kritisiert N. die Strategie der „Jünger der Jetztzeit'", den „na-
turgemäßen philosophischen Trieb durch die sogenannte ,historische Bildung'
zu paralysiren" (KSA 1, 742, 11-14). Diese Argumentationslinie führt er in UB II
HL fort, wo er die problematischen Folgen einer historisierenden Bildungskul-
tur zum Zentralthema avancieren lässt. - Im Sommer 1872 verfasste N. eine
nachgelassene Vorrede für seine fünf Vorträge Ueber die Zukunft unserer Bil-
dungsanstalten: Dort setzt er einen anderen Akzent, wenn er unter Rückgriff
auf das berühmte Diktum des Sokrates („Ich weiß, dass ich nichts weiß")
erklärt, nur derjenige sei gebildet, welcher „von dem [...] Wissen des Nichtswis-
sens" ausgehe, in den Bildungseinrichtungen „das Spezifische unserer gegen-
wärtigen deutschen Barbarei" zu erkennen versuche (KSA 1, 650, 6-10) und
damit letztlich kritische Kulturdiagnosen im Interesse einer besseren Zukunft
beabsichtige. Zum begrifflichen Spannungsfeld zwischen Gebildetheit, Bil-
dung, Kultur und Barbarei bei N. vgl. auch die ausführlicheren Darlegungen
in NK 161, 2-3.
450, 21 so weit es Besitz giebt] Eine Zeitlang hatte sich Wagner mit dem fran-
zösischen Frühsozialisten Pierre-Joseph Proudhon (1809-1865) beschäftigt.
Proudhon veröffentlichte 1840 ein Werk mit dem Titel Qu'est ce que la proprie-
te, das 1844 in deutscher Übersetzung publiziert wurde: Was ist das Eigentum?
Hier verurteilte der Anarchist Proudhon die bestehenden bürgerlichen Eigen-
 
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