Stellenkommentar UB IV WB 4, KSA 1, S. 452 433
sehen besonders intensiv entfalte und dadurch „der schrecklichen Seite des
Lebens" einen markanten Ausdruck verleihe (WWV I, § 51, Hü 298). Indem die
Tragödie Schmerz, Bosheit und katastrophale Zufallskonstellationen inszenie-
re, leite sie die Zuschauer zu der Einsicht an, dass das Leben „wesentlich ein
vielgestaltetes Leiden und ein durchweg unsäliger Zustand ist", dem „gänzli-
ches Nichtseyn [...] entschieden vorzuziehn wäre" (WWV I, § 59, Hü 381, 383).
Nach Schopenhauers Auffassung legt die Erfahrung des Tragischen insofern
eine Verneinung des Willens zum Leben nahe und vermittelt zugleich zwischen
Ästhetik und Ethik (vgl. Neymeyr 1996a, 387-424). Trotz einiger ausgeprägter
Unterschiede schließt N. in der Geburt der Tragödie tendenziell an Schopen-
hauers Konzept der Verneinung des Willens zum Leben und der Überwindung
des principium individuationis an, deutet es allerdings im Sinne seines diony-
sischen Vitalismus um: Anders als Schopenhauer, der die „letzte Absicht des
Trauerspiels" im „Hinwenden zur Resignation, zur Verneinung des Willens
zum Leben" sieht (WWV II, Kap. 37, Hü 500), betrachtet N. den „metaphysi-
sche[n] Trost", das Leben sei trotz allem „unzerstörbar mächtig und lustvoll",
als Wirkung jeder wahren Tragödie (KSA 1, 56, 7-11). In seiner eigenen Epoche
erhofft sich N. eine Renaissance der griechischen Tragödie in Gestalt der Mu-
sikdramen Richard Wagners.
Zu den Implikationen von Schopenhauers Willensmetaphysik vgl. NK 478,
24-28. Während Die Geburt der Tragödie sowohl Analogien als auch Differen-
zen zu Schopenhauers Ästhetik erkennen lässt, zeichnet sich in N.s späteren
Werken eine radikale Gegenposition zu Schopenhauer ab. So betrachtet N. den
Willen in der Fröhlichen Wissenschaft als ein Spezifikum von „intellectuellen
Wesen", weil er „eine Vorstellung von Lust und Unlust" voraussetze und inso-
fern auf die Tätigkeit eines „interpretirenden Intellects" verweise (KSA 3,
483, 21-27). Zu Einflüssen auf N.s Willenskonzepte vgl. Brusotti 2016, 205. Zum
fundamentalen Antagonismus zwischen Schopenhauer und N. (vor allem be-
züglich der Konzeption des Trauerspiels) vgl. NK 451, 21-23 und NK 472, 1-8.
Vgl. auch Neymeyr 2014b, 286-294 und 2018, 293-304.
452, 15-16 Die Kunst ist freilich keine Lehrerin und Erzieherin für das unmittel-
bare Handeln] In seinem Text Das Bühnenfestspielhaus zu Bayreuth (1873)
schreibt Wagner: „wir Alle [dürfen] uns wohl sagen, daß auch das Werk, wel-
ches wir heute gründen wollen, kein trügerisches Luftgebäude sein wird,
wenngleich wir Künstler ihm eben nur die Wahrhaftigkeit der in ihm zu ver-
wirklichenden Idee verbürgen können" (GSD IX, 327).
452, 25-26 dafür ist eben die Kunst die Thätigkeit des Ausruhenden] Dieses
Kunstverständnis zeigt Affinitäten zum Spielbegriff bei Friedrich Schiller und
bei Gustav Gerber. In seiner Schrift Über die ästhetische Erziehung des Men-
sehen besonders intensiv entfalte und dadurch „der schrecklichen Seite des
Lebens" einen markanten Ausdruck verleihe (WWV I, § 51, Hü 298). Indem die
Tragödie Schmerz, Bosheit und katastrophale Zufallskonstellationen inszenie-
re, leite sie die Zuschauer zu der Einsicht an, dass das Leben „wesentlich ein
vielgestaltetes Leiden und ein durchweg unsäliger Zustand ist", dem „gänzli-
ches Nichtseyn [...] entschieden vorzuziehn wäre" (WWV I, § 59, Hü 381, 383).
Nach Schopenhauers Auffassung legt die Erfahrung des Tragischen insofern
eine Verneinung des Willens zum Leben nahe und vermittelt zugleich zwischen
Ästhetik und Ethik (vgl. Neymeyr 1996a, 387-424). Trotz einiger ausgeprägter
Unterschiede schließt N. in der Geburt der Tragödie tendenziell an Schopen-
hauers Konzept der Verneinung des Willens zum Leben und der Überwindung
des principium individuationis an, deutet es allerdings im Sinne seines diony-
sischen Vitalismus um: Anders als Schopenhauer, der die „letzte Absicht des
Trauerspiels" im „Hinwenden zur Resignation, zur Verneinung des Willens
zum Leben" sieht (WWV II, Kap. 37, Hü 500), betrachtet N. den „metaphysi-
sche[n] Trost", das Leben sei trotz allem „unzerstörbar mächtig und lustvoll",
als Wirkung jeder wahren Tragödie (KSA 1, 56, 7-11). In seiner eigenen Epoche
erhofft sich N. eine Renaissance der griechischen Tragödie in Gestalt der Mu-
sikdramen Richard Wagners.
Zu den Implikationen von Schopenhauers Willensmetaphysik vgl. NK 478,
24-28. Während Die Geburt der Tragödie sowohl Analogien als auch Differen-
zen zu Schopenhauers Ästhetik erkennen lässt, zeichnet sich in N.s späteren
Werken eine radikale Gegenposition zu Schopenhauer ab. So betrachtet N. den
Willen in der Fröhlichen Wissenschaft als ein Spezifikum von „intellectuellen
Wesen", weil er „eine Vorstellung von Lust und Unlust" voraussetze und inso-
fern auf die Tätigkeit eines „interpretirenden Intellects" verweise (KSA 3,
483, 21-27). Zu Einflüssen auf N.s Willenskonzepte vgl. Brusotti 2016, 205. Zum
fundamentalen Antagonismus zwischen Schopenhauer und N. (vor allem be-
züglich der Konzeption des Trauerspiels) vgl. NK 451, 21-23 und NK 472, 1-8.
Vgl. auch Neymeyr 2014b, 286-294 und 2018, 293-304.
452, 15-16 Die Kunst ist freilich keine Lehrerin und Erzieherin für das unmittel-
bare Handeln] In seinem Text Das Bühnenfestspielhaus zu Bayreuth (1873)
schreibt Wagner: „wir Alle [dürfen] uns wohl sagen, daß auch das Werk, wel-
ches wir heute gründen wollen, kein trügerisches Luftgebäude sein wird,
wenngleich wir Künstler ihm eben nur die Wahrhaftigkeit der in ihm zu ver-
wirklichenden Idee verbürgen können" (GSD IX, 327).
452, 25-26 dafür ist eben die Kunst die Thätigkeit des Ausruhenden] Dieses
Kunstverständnis zeigt Affinitäten zum Spielbegriff bei Friedrich Schiller und
bei Gustav Gerber. In seiner Schrift Über die ästhetische Erziehung des Men-