Stellenkommentar UB IV WB 4, KSA 1, S. 452-453 435
er die Charakteristika der Literatur mit den typischen Darstellungsweisen der
Geschichte kontrastiert: „Der Dichter stellt mit Wahl und Absicht bedeutende
Charaktere in bedeutenden Situationen dar: der Historiker nimmt Beide wie sie
kommen" (WWV I, § 51, Hü 288). Dabei soll „der Historiker" jeweils der „indivi-
duellen Begebenheit genau nach dem Leben folgen, wie sie an den vielfach
verschlungenen Ketten der Gründe und Folgen sich in der Zeit entwickelt [...].
Der Dichter hingegen hat die Idee der Menschheit von irgend einer bestimm-
ten, eben darzustellenden Seite aufgefaßt" (WWV I, § 51, Hü 289). In der
„Dichtkunst [...] hält uns der Genius den verdeutlichenden Spiegel vor, in wel-
chem alles Wesentliche und Bedeutsame zusammengestellt und ins hellste
Licht gesetzt uns entgegentritt, das Zufällige und Fremdartige aber ausgeschie-
den ist" (WWV I, § 51, Hü 293). Auf jeweils spezifische Weise verfügen die lite-
rarischen Gattungen über das Potential zur Konzentration auf das Wesentliche.
Als Gemeinsamkeit hebt Schopenhauer hervor: „Die durchgängige Bedeutsam-
keit der Situationen soll den Roman, das Epos, das Drama vom wirklichen Le-
ben unterscheiden, eben so sehr, als die Zusammenstellung und Wahl bedeut-
samer Charaktere: [...] wir verlangen [...] den treuen Spiegel des Lebens, der
Menschheit, der Welt, nur verdeutlicht durch die Darstellung und bedeutsam
gemacht durch die Zusammenstellung" (WWV I, § 51, Hü 297).
Ähnlich wie Schopenhauer in seiner Ästhetik der Dichtkunst argumentiert
auch Richard Wagner in seiner Abhandlung Oper und Drama für eine poetische
Konzentration, indem er erklärt: „Der Dichter", der die „Handlungen, wie diese
Raum- und Zeitausdehnung, zu Gunsten eines übersichtlichen Verständnisses
zusammendrängte, hatte dieß Alles nicht etwa zu beschneiden, sondern
seinen ganzen wesentlichen Inhalt zu verdichten [...] In seiner vielhandli-
chen Zerstreutheit über Raum und Zeit vermag eben der Mensch seine eigene
Lebensthätigkeit nicht zu verstehen; das für das Verständniß zusammen-
gedrängte Bild dieser Thätigkeit gelangt ihm aber in der vom Dichter geschaffe-
nen Gestalt zur Anschauung [...] als verständlichste Darstellung der Wirk-
lichkeit [...]" (GSD IV, 84). In diesem Sinne sieht N. die Werke Wagners, die an
die kulturelle Tradition anschließen und thematisch auf germanische Mytholo-
gie oder mittelalterliche Dichtung zurückgreifen, durch Konzentration auf das
Wesentliche und durch eine klare Horizontbildung gekennzeichnet.
453, 6-9 Der Einzelne soll zu etwas Ueberpersönlichem geweiht werden - das
will die Tragödie; er soll die schreckliche Beängstigung, welche der Tod und die
Zeit dem Individuum macht, verlernen] Unter Rückgriff auf Schopenhauers
Überlegungen zur Aufhebung des principium individuationis exponiert N. der-
artige Vorstellungen mehrmals in der Geburt der Tragödie. Schopenhauer
beschreibt das Wollen der Individuen in der Welt als Wille und Vorstellung als
einen mit Leiden verbundenen Drang, der durch die Suspendierung des princi-
er die Charakteristika der Literatur mit den typischen Darstellungsweisen der
Geschichte kontrastiert: „Der Dichter stellt mit Wahl und Absicht bedeutende
Charaktere in bedeutenden Situationen dar: der Historiker nimmt Beide wie sie
kommen" (WWV I, § 51, Hü 288). Dabei soll „der Historiker" jeweils der „indivi-
duellen Begebenheit genau nach dem Leben folgen, wie sie an den vielfach
verschlungenen Ketten der Gründe und Folgen sich in der Zeit entwickelt [...].
Der Dichter hingegen hat die Idee der Menschheit von irgend einer bestimm-
ten, eben darzustellenden Seite aufgefaßt" (WWV I, § 51, Hü 289). In der
„Dichtkunst [...] hält uns der Genius den verdeutlichenden Spiegel vor, in wel-
chem alles Wesentliche und Bedeutsame zusammengestellt und ins hellste
Licht gesetzt uns entgegentritt, das Zufällige und Fremdartige aber ausgeschie-
den ist" (WWV I, § 51, Hü 293). Auf jeweils spezifische Weise verfügen die lite-
rarischen Gattungen über das Potential zur Konzentration auf das Wesentliche.
Als Gemeinsamkeit hebt Schopenhauer hervor: „Die durchgängige Bedeutsam-
keit der Situationen soll den Roman, das Epos, das Drama vom wirklichen Le-
ben unterscheiden, eben so sehr, als die Zusammenstellung und Wahl bedeut-
samer Charaktere: [...] wir verlangen [...] den treuen Spiegel des Lebens, der
Menschheit, der Welt, nur verdeutlicht durch die Darstellung und bedeutsam
gemacht durch die Zusammenstellung" (WWV I, § 51, Hü 297).
Ähnlich wie Schopenhauer in seiner Ästhetik der Dichtkunst argumentiert
auch Richard Wagner in seiner Abhandlung Oper und Drama für eine poetische
Konzentration, indem er erklärt: „Der Dichter", der die „Handlungen, wie diese
Raum- und Zeitausdehnung, zu Gunsten eines übersichtlichen Verständnisses
zusammendrängte, hatte dieß Alles nicht etwa zu beschneiden, sondern
seinen ganzen wesentlichen Inhalt zu verdichten [...] In seiner vielhandli-
chen Zerstreutheit über Raum und Zeit vermag eben der Mensch seine eigene
Lebensthätigkeit nicht zu verstehen; das für das Verständniß zusammen-
gedrängte Bild dieser Thätigkeit gelangt ihm aber in der vom Dichter geschaffe-
nen Gestalt zur Anschauung [...] als verständlichste Darstellung der Wirk-
lichkeit [...]" (GSD IV, 84). In diesem Sinne sieht N. die Werke Wagners, die an
die kulturelle Tradition anschließen und thematisch auf germanische Mytholo-
gie oder mittelalterliche Dichtung zurückgreifen, durch Konzentration auf das
Wesentliche und durch eine klare Horizontbildung gekennzeichnet.
453, 6-9 Der Einzelne soll zu etwas Ueberpersönlichem geweiht werden - das
will die Tragödie; er soll die schreckliche Beängstigung, welche der Tod und die
Zeit dem Individuum macht, verlernen] Unter Rückgriff auf Schopenhauers
Überlegungen zur Aufhebung des principium individuationis exponiert N. der-
artige Vorstellungen mehrmals in der Geburt der Tragödie. Schopenhauer
beschreibt das Wollen der Individuen in der Welt als Wille und Vorstellung als
einen mit Leiden verbundenen Drang, der durch die Suspendierung des princi-