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Neymeyr, Barbara; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Mitarb.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 1,4): Kommentar zu Nietzsches "Unzeitgemässen Betrachtungen": III. Schopenhauer als Erzieher, IV. Richard Wagner in Bayreuth — Berlin, Boston: de Gruyter, 2020

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https://doi.org/10.11588/diglit.69928#0463
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436 Richard Wagner in Bayreuth

pium individuationis im Tod oder durch die Verneinung des Willens zum Le-
ben aufgehoben werden könne. Durch die Inszenierung von Leiden, Bosheit
und Katastrophen kann die Tragödie den Zuschauern laut Schopenhauer die
essentielle Erkenntnis vermitteln, dass das Leben „wesentlich ein vielgestalte-
tes Leiden" sei, dem „gänzliches Nichtseyn [...] entschieden vorzuziehn wäre"
(WWV I, § 59, Hü 381, 383). Auch N. geht davon aus, dass der Untergang des
tragischen Helden in der Tragödie den Zuschauern tiefere Einsichten in das
Wesen der Existenz eröffnen kann. Dabei ermöglicht die tragische Katastrophe
dem Individuum die Teilhabe an einer überindividuellen Ganzheitserfahrung.
Vgl. auch NK 452, 10-15.
453, 11-12 das heisst tragisch gesinnt sein] Hier sind Affinitäten zu einer
Passage in UB II HL zu erkennen: „aber wozu du Einzelner da bist, das frage
dich, und wenn es dir Keiner sagen kann, so versuche es nur einmal, den Sinn
deines Daseins gleichsam a posteriori zu rechtfertigen, dadurch dass du dir
selber einen Zweck, ein Ziel, ein ,Dazu' vorsetzest, ein hohes und edles ,Dazu'.
Gehe nur an ihm zu Grunde - ich weiss keinen besseren Lebenszweck als am
Grossen und Unmöglichen, animae magnae prodigus, zu Grunde zu gehen"
(KSA 1, 319, 13-20). Vgl. auch NK 451, 21-23 und NK 453, 12-23.
453, 12-23 Und wenn die ganze Menschheit einmal sterben muss [...] so ist ihr
als höchste Aufgabe für alle kommenden Zeiten das Ziel gestellt [...], dass sie als
ein Ganzes ihrem bevorstehenden Untergange mit einer tragischen Ge-
sinnung entgegengehe [...] Es giebt nur Eine Hoffnung [...], dass die tragi-
sche Gesinnung nicht absterbe.] Vgl. dazu die folgende Textpartie aus
der Geburt der Tragödie, in der N. auf Überlegungen Schopenhauers zurück-
greift: „Mit dieser Erkenntniss ist eine Cultur eingeleitet, welche ich als eine
tragische zu bezeichnen wage: deren wichtigstes Merkmal ist, dass an die Stel-
le der Wissenschaft als höchstes Ziel die Weisheit gerückt wird, die sich [...]
mit unbewegtem Blicke dem Gesammtbilde der Welt zuwendet und in diesem
das ewige Leiden [...] zu ergreifen sucht. Denken wir uns eine heranwachsende
Generation mit dieser Unerschrockenheit des Blicks, mit diesem heroischen
Zug ins Ungeheure, denken wir uns den kühnen Schritt dieser Drachentödter,
die stolze Verwegenheit, mit der sie allen den Schwächlichkeitsdoctrinen jenes
Optimismus den Rücken kehren" (KSA 1, 118, 26 - 119, 4). Während N. in den
Kapiteln 13 bis 15 seiner Geburt der Tragödie die logisch-theoretische Kultur
des „Sokratismus" ablehnt, weil sie von einem trivialen Optimismus erfüllt sei,
bekennt er sich zur „tragischen Gesinnung" jener älteren Kultur, deren Wieder-
belebung er durch das Musikdrama Wagners erhofft.
Im 16. Kapitel der Geburt der Tragödie erklärt N.: „erst aus dem Geiste der
Musik heraus verstehen wir eine Freude an der Vernichtung des Individuums.
 
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