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Neymeyr, Barbara; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Contr.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 1,4): Kommentar zu Nietzsches "Unzeitgemässen Betrachtungen": III. Schopenhauer als Erzieher, IV. Richard Wagner in Bayreuth — Berlin, Boston: de Gruyter, 2020

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https://doi.org/10.11588/diglit.69928#0467
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440 Richard Wagner in Bayreuth

ner Streitschrift Zur Genealogie der Moral explizit als einen „Widerspruch" bei
Wagner (KSA 5, 345, 23-27). Ironisch betont er hier zugleich Wagners pragmati-
sche Tendenz, den neugewonnenen Status der Musik als einen Selbstzweck
von metaphysischer Dignität für seine eigene Aura als Komponist zu instru-
mentalisieren: „Er begriff mit Einem Male, dass mit der Schopenhauer'schen
Theorie und Neuerung mehr zu machen sei in majorem musicae gloriam, -
nämlich mit der Souverainetät der Musik, so wie sie Schopenhauer begriff:
die Musik abseits gestellt gegen alle übrigen Künste, die unabhängige Kunst
an sich [...], die Sprache des Willens selbst redend [...], als dessen eigenste,
ursprünglichste, unabgeleitetste Offenbarung. Mit dieser ausserordentlichen
Werthsteigerung der Musik, wie sie aus der Schopenhauer'schen Philosophie
zu erwachsen schien, stieg mit Einem Male auch der Musiker selbst uner-
hört im Preise: er wurde nunmehr ein Orakel, ein Priester, ja [...] eine Art Mund-
stück des ,An-sich' der Dinge, ein Telephon des Jenseits, - er redete fürderhin
nicht nur Musik, dieser Bauchredner Gottes, - er redete Metaphysik" (KSA 5,
346, 1-16). N. unterstellt Wagner hier also, er benutze die Musik zur Selbstins-
zenierung, um sich als Komponist eine numinose Aura zu verschaffen.
Zuvor erklärt N. bereits im Text 368 der Fröhlichen Wissenschaft: „Meine
Schwermuth will in den Verstecken und Abgründen der Vollkommenheit
ausruhn: dazu brauche ich Musik. Was geht mich das Drama an! Was die
Krämpfe seiner sittlichen Ekstasen [...]! Was der ganze Gebärden-Hokuspokus
des Schauspielers! ... Man erräth, ich bin wesentlich antitheatralisch geartet, -
aber Wagner war umgekehrt wesentlich Theatermensch und Schauspieler, der
begeistertste Mimomane, den es gegeben hat, auch noch als Musiker!" (KSA 3,
617, 14-22). Dann relativiert N. den vermeintlichen Selbstzweck der Musik für
Wagner: „wenn es Wagner's Theorie gewesen ist ,das Drama ist der Zweck, die
Musik ist immer nur dessen Mittel', - seine Praxis dagegen war, von Anfang
bis zu Ende, ,die Attitüde ist der Zweck, das Drama, auch die Musik ist immer
nur ihr Mittel'. Die Musik als Mittel zur Verdeutlichung, Verstärkung, Verinner-
lichung der dramatischen Gebärde und Schauspieler-Sinnenfälligkeit; und das
Wagnerische Drama nur eine Gelegenheit zu vielen dramatischen Attitüden!
Er hatte, neben allen anderen Instinkten, die commandirenden Instinkte eines
grossen Schauspielers, in Allem und Jedem: und, wie gesagt, auch als Musi-
ker" (KSA 3, 617, 23-33). In Anlehnung an N. bezeichnet Thomas Mann Wag-
ner als „Theatromane[n]", ja sogar als „Theaterdionysos" (Bd. IX, 374, 407).
454, 17-20 Was bedeutet es, fragt sich Wagner, dass im Leben der neueren Men-
schen gerade eine solche Kunst, wie die der Musik, mit so unvergleichlicher Kraft
entstanden ist?] N. bezieht sich hier auf Wagners Schrift „Zukunftsmusik"
(1860). Hier äußert sich Wagner folgendermaßen über die Musik: „Die meta-
physische Nothwendigkeit der Auffindung dieses ganz neuen Sprachvermö-
 
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